Annegret Liebers weiß wie sich Menschen fühlen, die einen Menschen durch Suizid verloren haben. Sie selbst war acht Jahre alt, als ihr Vater aus dem Leben geschieden ist. Bis ins Erwachsenenalter habe sie keine Worte für das Geschehen gehabt.
Sprachlos zu sein, das sei auch eines der Probleme, mit denen Nachbarn und Bekannte kämpften, wenn sie von einem Suizid erfahren, berichtet der Psychotherapeut Klaus Schonauer.

Annegret Liebers und Klaus Schonauer bieten Hinterbliebenen Halt. Beide arbeiten auf ganz unterschiedliche Weise unter dem Dach des Hospizvereins in der Talgartenstraße 2.
Annegret Liebers leitet seit einem Jahr die Selbsthilfegruppe für Hinterbliebene nach dem Suizid eines nahestehenden Menschen und Klaus Schonauer ist seit fünf Jahren einer der beiden Fachleute, die psychotherapeutische Gruppen für Hinterbliebene leiten.
Keine Anmeldung zur Selbsthilfegruppe nötig
In die Selbsthilfegruppe kann jeder Betroffene spontan kommen, also auch ohne Anmeldung, und selbst bestimmen, wie lange er dort bleibt. Für die psychotherapeutische Gruppe ist ein Vorgespräch notwendig und sie umfasst zwölf feste Termine. Hier muss sich also jemand fortlaufend aufs Thema einlassen.
In manchen Fällen seien auch erst Einzelgespräche angebracht, sagt Schonauer. Die Krankenkasse übernehme oftmals die Gespräche, so der frühere Chefarzt des Zentrums für Psychiatrie Reichenau und Beauftragter für Suizid in dieser Einrichtung sowie heutige Psychotherapeut mit eigener Praxis.
Es kommen Menschen aller Altersklassen zusammen
In die fünf Hinterbliebenen-Gruppen, die er bisher leitete, seien Menschen in den Altersklassen von 21 bis 75 Jahre gekommen, sagt Klaus Schonauer. Bei manchen liege der Suizid eines Nahestehenden Jahre zurück, bei anderen sei er recht frisch.
Schonauer berichtet, Hinterbliebene litten stark, weil sie den Eindruck haben, dass andere sich von ihnen zurück ziehen. „Darüber sprechen die meisten Teilnehmer.“ Tatsächlich wichen Nachbarn und gute Bekannte dem Hinterbliebenen oft deshalb aus, weil sie nicht wüssten, wie sie sich verhalten sollen.
Diese Sprachlosigkeit werde von Betroffenen oft falsch gedeutet. Sie hätten den Eindruck, sie würden abgelehnt oder gemieden. Für viele sei es eine Entlastung zu erfahren, wo die wahren Motive liegen können.
Es ist in Ordnung, keine Worte zu finden
Petra Hinderer, Geschäftsführerin des Hospizvereins in Konstanz, kennt das Problem, dass Menschen nicht wissen wie sie über den Tod oder die Selbsttötung sprechen sollen. Sie rät dazu, die Unsicherheit zum Ausdruck zu bringen und deutlich zu sagen: „Ich finde keine Worte.“
Sie würde sich das Bewusstsein wünschen, dass jeder jederzeit einen Angehörigen durch Suizid verlieren könne. „Es kann jedem passieren.“ Der Verein Agus, Angehörige um Suizid, geht davon aus, dass sich alle 52 Minuten ein Mensch in Deutschland das Leben nimmt.
Annegret Liebers sagt, ein Hinterbliebener freue sich über kleine Gesten, wie die warme Suppe oder den Kuchen, den einer vorbei bringe oder vor die Tür stelle. Auch das Beistehen und Dasein sei wichtig.
Die Zeit heilt alle Wunden? Das ist Quatsch...
Ratschläge seien nicht angebracht, auch wenn viele sie geben wollten. Sie betrachte beispielsweise den Satz „die Zeit heilt alle Wunden“ als völligen Quatsch. Jede Wunde lasse Narben zurück, denen man sich widmen sollte, wenn sie jucken oder schmerzen.
Viele Betroffene hätten beispielsweise Schwierigkeiten, den Todestag oder Geburtstag des Menschen, der aus dem Leben geschieden ist, zu überstehen. In der Gruppe versuche man, mitfühlend darauf einzugehen.
Manchen helfe es, zu erfahren, wie ein ebenso Betroffener diesen besonderen Tag gestalte. Manchmal helfe es, über die Gefühle zu sprechen. In der Selbsthilfegruppe gelte: Das Kommen hilft.
Der Psychotherapeut Klaus Schonauer wünscht sich Mut von den Mitmenschen. Wer aus Angst wegschaue, lasse den Hinterbliebenen im Regen stehen. Er plädiert dafür, Suizid als Möglichkeit in Betracht zu ziehen. „Man kann Menschen nicht zum Leben nötigen.“
Die Bereitschaft, Hilfsangebote wahrzunehmen, steigt
Hoffnung mache ihm, dass sich seit den auslaufenden 70er-Jahren die Zahl der Suizide fast halbiert habe. Er führt dies auf die gestiegene Bereitschaft zurück, Beratungs- und Hilfsangebote wahrzunehmen.
Auch in den Gruppen komme es immer wieder zu Konflikten, weil es unterschiedliche Einstellungen zum Suizid gebe, berichtet Schonauer. Manche erlebten ihn auch als Entlastung. Andere plagten sich mit der Frage, ob sie schuld seien am Geschehen.
Manchmal würden sich darunter ganz andere Gefühle verbergen, wie die Wut, verlassen worden zu sein. In den Gesprächen in der Gruppe entstehe diese „frei schwebende Empathie“, der größte Vorteil des Austauschs im Kreise anderer Betroffener, wie Klaus Schonauer sagt.
„Trauen Sie sich, es auszuprobieren“
In der letzten Sitzung werde auf den Weg geblickt, den die Hinterbliebenen gegangen sind. Oftmals helfe das Wissen, dass andere genau so schwere Zeiten durchmachen mussten. Manchmal sei es auch gut zu wissen, was einem anderen geholfen hat, die Lage zu bewältigen.
Petra Hinderer rät: „Trauen Sie sich, es auszuprobieren.“ Viele hätten Angst, dass es ihnen schlecht geht, weil sie sich mit ihrer Trauer beschäftigt haben. „Das passiert.“ Doch die Gruppe helfe einem, die Last zu tragen.