Wenn Fritz Möhrle zu einem Einsatz gerufen wird, ist dies meistens kein gutes Zeichen. In der Regel ist dann irgendetwas Schlimmes geschehen: Unglücke, Katastrophen, schwere Unfälle. Meist mit Todesfolge. Fritz Möhrle ist Notfallseelsorger im Landkreis Konstanz.

Wenn Fritz Möhrle zu einem Einsatz gerufen wird, hat er seine gelb-blaue Jacke mit der Aufschrift „Notfallseelsorge“ stets ...
Wenn Fritz Möhrle zu einem Einsatz gerufen wird, hat er seine gelb-blaue Jacke mit der Aufschrift „Notfallseelsorge“ stets griffbereit. | Bild: Matthias Güntert

Der waschechte Singener ist einer, mit dem man es gut aushalten kann – kurz gesagt: ein geselliger Typ mit Humor und unverwechselbarem Charme. Aber Fritz Möhrle kann auch anders. Das hängt mit einem kleinen schwarzen Piepser zusammen, der auf dem Tisch, nur einen Handgriff entfernt, liegt. Dieser kann die Situation nämlich schlagartig ändern: Wenn Fritz Möhrle daraus eine fünffache Tonfolge und die Worte „Integrierte Leitstelle mit Einsatz für die Notfallseelsorge“ hört, muss der 65-jährige Singener reagieren. Fritz Möhrle ist 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche erreichbar. „Das gehört dazu“, sagt er. Aber noch ist der ehemalige Berufsschullehrer entspannt, redet über seine ehrenamtliche Arbeit. Schwätzt aus dem Nähkästchen, wie er es selbst nennen würde. Die Situation ist ungezwungen, trotz des zum Teil bedrückenden Themas.

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Seit 2007 ist Fritz Möhrle als Notfallseelsorger im gesamten Landkreis aktiv. Zu seinen Aufgaben gehört es etwa, bei Unfällen mit Todesfolgen oder Suiziden die Polizei bei der Überbringung der Todesnachricht zu begleiten. Unfallfahrer, Passanten oder Hinterbliebene zu betreuen oder zu unterstützen. Aber auch Einsatzkräfte der Blaulichtorganisationen nehmen seine Hilfe an, wenn sich nach einem Einsatz schreckliche Bilder in ihren Kopf gebrannt haben. Er wisse, dass viele Kollegen aus der Feuerwehr oder dem Rettungsdienst mit Belastungen aus dem Einsatz kommen – und mit den Erfahrungen alleine gelassen werden. „Wenn die Personen vom Rettungsdienst längst daheim sind und in aller Ruhe über das Erlebte nachdenken, entstehen oftmals die psychischen Probleme.“ Dabei müsse dies nicht so sein: „Oft reicht es, mit zwei offenen Ohren zuzuhören und eine Schulter zum Anlehnen zu bieten.“

„Ich habe gemerkt, dass ich meinen Kameraden helfen kann und auch möchte.“

Wann er sich dazu entschieden habe, sich als Notfallseelsorger zu engagieren, weiß der Singener nicht mehr ganz genau: „Das war eine längere Entwicklung.“ Seit er 18 Jahre alt war, war Fritz Möhrle durchgängig bei der Feuerwehr aktiv. Er erinnert sich auch an den ersten Einsatz – noch keine vier Wochen als junger Feuerwehrmann: „Dessen Bilder haben mich lange Zeit verfolgt.“ Auch die sich mehrenden Amokläufe in Deutschland, etwa der aus Erfurt aus dem Jahr 2002, haben zu der Entscheidung beigetragen. „Ich habe gemerkt, dass ich aus meiner Einsatzerfahrung heraus meinen Kameraden helfen kann und auch möchte“, sagt Fritz Möhrle. Irgendwann habe er sich dazu entschieden, die Ausbildung zum Notfallseelsorger anzugehen.

In 99 Prozent geht es um Trauer, Tod und Schmerz

Suizide, Vermisstenfälle, tödliche Unfälle – die Notfallseelsorger werden über die Rettungsleitstelle in Radolfzell alarmiert. Wenn es zu einem Einsatz kommt und der Piepser anschlägt, spricht sich Fritz Möhrle mit der Zentrale ab, verschafft sich einen Überblick. „In 99 Prozent der Fälle geht es um Trauer, Tod und Schmerz““, sagt der Singener. Er selbst nennt das: „Ich leiste Erste Hilfe für die Seele.“

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Die Notfallseelsorger rücken im Idealfall mindestens zu zweit aus. Am idealsten sei es, wenn man eine Eins-zu-Eins-Betreuung schaffen könnte. Das oberste Motto von Fritz Möhrle und seinen Kollegen: „Wir lassen niemanden alleine.“ Menschen werden so lange betreut, bis das soziale Netz greife. Dies bedeute in erster Linie, dass die Menschen, die Schreckliches erlebt haben, in die Obhut von Freunden, Familie oder Bekannten übergeben werden. „Alleine zu bleiben mit dem Erlebten, wäre das Schlimmste. Bei Einsätzen schauen wir nicht auf die Uhr“, sagt Möhrle. Dann muss er kurz schmunzeln und der Ur-Singener Schalk stiehlt sich in seine Augen: „Wir legen uns aber zu niemanden ins Gräble.“

Notfallseelsorger Fritz Möhrle steht an einer Straße im Hegau, ein Auto fährt an ihm vorbei. Nicht selten wird er zu Unfällen mit ...
Notfallseelsorger Fritz Möhrle steht an einer Straße im Hegau, ein Auto fährt an ihm vorbei. Nicht selten wird er zu Unfällen mit Todesfolge gerufen. | Bild: Tesche, Sabine

Dann wird er wieder ernst: „Ich versuche erst einmal die Leute zu beruhigen und gehe unvoreingenommen in ein Gespräch. Ich höre den Menschen zu, wie sie die Sache erlebt haben.“ Weinen und Trauer gehören zu seiner Arbeit dazu. „Klar, man darf bei mir auch weinen“, sagt Fritz Möhrle. Oft sage er seinen Gesprächspartnern: „Weinen Sie ruhig, Sie haben allen Grund dafür.“

Seine größte Stärke kennt Fritz Möhrle und es handelt es sich hierbei nicht um seinen Humor. „Ich muss eigentlich oft nur ein guter Zuhörer sein. Wenn man den Menschen zuhört und sie sich sicher fühlen, dann sprudelt das Erlebte oft von alleine aus ihnen heraus.“ Apropos sicher, Fritz Möhrle kann nicht nur gut Geheimnisse behalten, er muss es im Einsatz auch. Denn er ist zur Verschwiegenheit verpflichtet. „Das ist eigentlich die Basis eines jeden Gesprächs.“ Herkunft oder der Beruf würden ihn nicht interessieren. Anders sieht es mit Namen aus: „Dieser ist uns sehr wichtig, weil wir unseren Gegenüber mit ihrem Namen ansprechen möchten“, sagt Fritz Möhrle.

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Für Bürgermeisterin Ute Seifried ist die ehrenamtliche Arbeit der Notfallseelsorger nicht hoch genug einzuschätzen: „Unsere Gesellschaft hat ja die Tendenz, den Tod aus unserem Leben zu verdrängen, aber er ist eben doch da. Und wenn er dann kommt, dann ist es für die Betroffenen ganz wichtig, dass Menschen da sind, die ihnen beistehen.“ Vor allem bei schweren Unfällen und tragischen Ereignissen. Seifried erinnere sich aus ihrer Zeit in Konstanz noch an einen Selbstmord einer jungen Mutter, die vom Münsterturm sprang. „Das war für die Familie und all die Menschen, die das miterlebt haben, einfach nur schrecklich. Das sind die Fälle, bei denen ich den größten Respekt für unsere Notfallseelsorgerinnen und Seelsorger hege, in solche Situationen hinein zu gehen und den Menschen über diese schwere Zeit hinweg zu helfen“, betont sie.

Auch bei der Schießerei in einer Diskothek in Konstanz am 30. Juli 2017 war Notfallseelsorger Fritz Möhrle im Einsatz.
Auch bei der Schießerei in einer Diskothek in Konstanz am 30. Juli 2017 war Notfallseelsorger Fritz Möhrle im Einsatz. | Bild: Hanser, Oliver

Auch Notfallseelsorger Fritz Möhrle nimmt viele schreckliche Bilder und Situationen mit nach Hause. „Wir müssen schon ein dickes Fell haben“, betont er. Der 65-Jährige habe schon viele Schicksalsschläge miterlebt – vor allem in den ersten Stunden nach einem Einsatz. Besonders schlimm seien für ihn Einsätze, in die junge Menschen involviert sind. „Ich bekomme noch heute einen Kloß im Hals, wenn die Einsatzstelle meldet, dass es um Kinder geht“, sagt Fritz Möhrle.

„Wir sind nicht aus Stein.“

Wenn er von einem Einsatz nach Hause komme und sich schlimme Bilder vor seinem geistigen Auge abspielen, habe er eine Methode der Verarbeitung: „Dann schnappe ich mir mein Rad und strample eine Stunde durch den Hegau“, sagt er lachend. Doch dann wird Fritz Möhrle wieder ernst und schaut in Richtung Küche. Dort bereitet seine Frau Helga gerade das Mittagessen zu: „Und wenn es ganz schlimm ist, baut mich meine Frau schnell wieder auf. Auf sie kann ich mich immer verlassen.“ Schließlich sind auch Notfallseelsorger nicht aus Stein, sondern nur Menschen – und zwar ganz besondere.