Arnulf Moser, der Konstanzer Historiker, räumt gerade auf. Mit geschichtlichen Recherchen hat er abgeschlossen. Bücher werden aussortiert und entsorgt. „Ich werfe alles raus!“ Von seinem Buch „Der Zaun im Kopf: Zur Geschichte der deutsch-schweizerischen Grenze um Konstanz“ hat er noch genau ein Exemplar.
„Alle anderen habe ich verschenkt.“ Der ehemalige Berufsschullehrer hat selbst jahrelang am Grenzzaun Führungen veranstaltet. Zu Beginn, wie er sich erinnert, misstrauisch von Schweizer Zöllnern beäugt: Was er da mache? „Da wurden auch mal die Ausweise der ganzen Gruppe kontrolliert. Bis man mich eben kannte.“
Viele Schweizer Besucher seien interessiert gewesen, es sei vor allem um die Frage gegangen: Wo verlief der Zaun? Wann und wie gab es Gelegenheiten für Flüchtlinge während der Nazi-Diktatur, den Zaun zu überwinden? Und wer hat an Schleuser- und Schlepperdiensten verdient?

Seine Geschichte der Grenze umfasst alle Aspekte dieses Themas, von Kooperationen über Abgrenzungen bis hin zu Misstrauen und Fremdheit. Noch Ende des 19. Jahrhunderts spielte demnach die Grenze zwischen beiden Städten für die Bewohner kaum eine Rolle. Das änderte sich mit Beginn des Ersten Weltkriegs. Auf einmal wurde kontrolliert und auch Durchgangssperren errichtet.
Als nach 1918 die Reichsmark inflationär an Kaufkraft verlor und das Gefälle zum Schweizer Franken immer größer wurde, versuchte man, den Schmuggel und Devisenhandel durch noch schärfere Grenzkontrollen, Einfuhrbeschränkungen und Behinderung von Grenzgängern an der Grenze Kreuzlingen/Konstanz in den Griff zu bekommen.
Die Stimmung wird schlechter an der Grenze
1930 brach dann der „Milchkrieg“ aus. Vorher hatten Thurgauer Bauern täglich 10.000 Liter Milch nach Konstanz geliefert. Aber auf Druck der südbadischen Bauern wurde diese Menge um die Hälfte reduziert. Nur noch 5000 Liter durften ab da zollfrei eingeführt werden. Im Dezember 1932 war auch damit Schluss. Prompt folgte von Schweizer Seite ein Boykottaufruf an die Kreuzlinger, nicht mehr „drüben“ einzukaufen.
Das Verhältnis kühlte merklich ab und erreichte seinen Tiefpunkt, als zunächst die Schweiz selbst und dann die Nazis die Grenze immer mehr abriegelten, plötzlich am Grenzbach Leute in Parteiuniform mit Hunden patrouillierten und schließlich ein 2,70 Meter hoher Grenzzaun vom Tägermoos bis zum Obersee die Städte trennte.
Beide Seiten machten dicht, wollten so auch die Flucht von Juden in die neutrale Schweiz verhindern. Was auch dem gescheiterten Hitler-Attentäter Georg Elser letztlich bei seinem versuchten Grenzübertritt zum Verhängnis wurde.
Annäherungen bleiben zuerst aus
Auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges blieb eine Distanz spürbar. Fast feindlich, zumindest aber „wehrhaft“ über das angrenzende Ausland äußert sich 1987 der FDP-Nationalrat Ernst Mühlmann in einem Beitrag zum 100-jährigen Bestehen der Offiziersgesellschaft Kreuzlingen, in dem er schrieb: „Die moderne militärische Bedrohung gibt dem Grenzzaun in Kreuzlingen erhöhte Bedeutung.
Für unsere Landesverteidigung ist nämlich in der besonders gefährdeten Nordostecke der Schweiz die wichtigste Einfallspforte zu finden (…). Eine spezielle militärische Verstärkung dieses Abschnittes ist deshalb angezeigt und muss weiterhin hartnäckig gefordert werden.“
Landeroberungen im Thurgau?
Wollte der Nationalrat seine Schweiz „nur“ verteidigen, so hatte das Hitler-Regime 1940 ganz andere Töne angeschlagen. Konstanz wurde als „Stadt ohne Raum“ bezeichnet, und man stellte auf deutscher Seite Überlegungen an, wie man die unerträgliche Beengung der Stadt durch Landeroberungen im Thurgau lösen könnte. Zum Glück blieb es bei der Theorie.
Neben der Zusammenarbeit beider Städte etablierte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein „gleichgültiges Nebeneinander“, wie es Moser in seinem Buch bezeichnet. Das habe sich mit der Zeit so ergeben. Gelegentlich schlägt dieses sogar in unverhohlene Ablehnung um, so ist im „Thurgauer Volksfreund“ im Januar 1990 zu lesen: „Um Gottes Willen, lasst ja den Grenzzaun stehen! Im Gegenteil – man sollte ihn noch unter Strom stellen oder aber wieder mit Stacheldraht bestücken. (…) Man sollte die Grenze mal schliessen, vom Boden- bis zum Genfersee, und dann schön ausmisten, ich glaube, dann wäre es uns bestimmt wieder wohler. (…) Auch brauchen wir keine weiteren Übergänge, die Deutschen wollen ja sowieso nur mit dem Auto kommen.“
Sicher nur eine Einzelstimme, die sich sicher aber auch auf Konstanzer Seite finden ließe, wo sich mancher vom Einkaufstourismus genervt zeigt. Auch im Film „Der Zaun im Paradies“ von Helmut Bürgel, der 1991 im SWR ausgestrahlt wurde, werden die Überfremdungsängste der Schweizer beleuchtet. Denn nach Kreuzlingen ziehen immer mehr Deutsche.
Mentalitätsunterschiede zwischen den Nachbarn
2010 hat nur noch die Hälfte der 20.000 Einwohner Kreuzlingens einen Schweizer Pass, 23 Prozent, also etwa 4000 Personen, sind Deutsche, 2021 sind es schon fast 7000. Der Kreuzlinger Stadtammann Andreas Netzle, ab 2006 im Amt, sprach von „Mentalitätsunterschieden“. So hätten Nachbarschaftsstreitigkeiten, Einsprüche und Beschwerden deutlich zugenommen. Jetzt, da man direkter Nachbar ist, kommt man sich offensichtlich auch mal zu nahe.
1996 rüstet die Grenzwacht in Kreuzlingen auf. In den ersten vier Monaten werden 143 Personen festgenommen, die versucht hatten, illegal die Grenze zu überqueren. Video-Kameras, Infrarotscheinwerfer sowie Bewegungsmelder werden angeschafft. Die deutsche Seite baut den „Paradieser Todesstreifen“, wie er einmal reißerisch genannt wurde, die Begrenzungen von der Europabrücke bis zum Zollhof, sodass ein Blatt sogar schreibt: „Konstanz baut seine eigene Mauer!“
Die Grenze, so scheint es, zeigt immer deutlicher ihr Gesicht. Die Volksabstimmung am 4. März 2001, in der sich Schweizer gegen Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union aussprechen, trägt sicher dazu bei. Der Schweizer Peter Forster vom Rotary-Club Konstanz-Kreuzlingen erklärte 2005 den Unterschied zwischen den Einwohnern so: „Für viele Konstanzer ist Konstanz Domizil. Für Kreuzlinger ist Kreuzlingen Heimat.“
Was er damit sagen will: Die Verbundenheit der Kreuzlinger Einheimischen mit ihrem Städtchen, in dem sie oft aufgewachsen sind, sei eben viel stärker als die der vielen Konstanzer, die nur zugezogen sind. Eine Grenze gab es also nicht nur auf der Landkarte, sondern immer wieder auch einen Zaun in den Köpfen. Und das auf beiden Seiten.