Ein paar Schritte wurden ihm zum Verhängnis: Nachdem die Schweiz ein vorübergehendes Einreiseverbot gegen den österreichischen Rechtsextremisten Martin Sellner verhängt hatte, wurde er am Samstagmorgen, 19. Oktober, kurzzeitig von der Kantonspolizei Thurgau direkt hinter dem Einkaufszentrum Lago mitgenommen. Dass er sich bereits in der Schweiz befand, war ihm dabei wohl nicht bewusst. Sellner hatte zuvor einen „Vortrag“ in der Umgebung um Konstanz angekündigt.
Doch dazu kam es nicht. Bereits kurz nach seinem Erscheinen – er wollte gerade mit einer Pressekonferenz beginnen – wurde er von der Kantonspolizei Thurgau zur Seite genommen und auf ein für ihn geltendes Einreiseverbot in die Schweiz aufmerksam gemacht. Er befinde sich bereits auf Schweizer Boden. Das wollte Sellner zunächst nicht glauben und stellte die Frage: „Wo ist denn hier die Grenze?“ Umgeben war der dabei von einer Entourage, unterem anderen von Teilen der Schweizer Neonazi-Gruppe „Junge Tat“.
Die Beamten der Kantonspolizei Thurgau machten kurzen Prozess und führten den Rechtsextremen zu einem Polizeifahrzeug und fuhren mit ihm davon. Die Kantonspolizei bestätigte anschließend, dass sie eine 35-jährige Person aufgegriffen und für weitere Abklärungen mitgenommen habe.
Thorsten Priller vom Führungs- und Lagezentrum des Polizeipräsidiums Konstanz bestätigte ebenfalls, dass der 35-Jährige in der Schweiz festgesetzt worden sei.

Drei Anhänger von Martin Sellner seien derweil nach dessen Mitnahme von der deutschen Polizei kontrolliert worden. „Anschließend wurde ein Platzverweis erteilt“, so Priller. Die jungen Männer hätten daraufhin die Stadt verlassen. Unter ihnen befand sich nach SÜDKURIER-Recherchen auch Tobias Lingg von der „Jungen Tat“.

Ob Sellner die Grenze wirklich versehentlich überschritten hat, bleibt unklar. Im Vorfeld war bereits auf der Online-Plattform Telegram spekuliert worden, er wolle eine gezielte Festnahme provozieren.
Sellner selbst ließ sich bei seiner Mitnahme filmen. Später veröffentliche er auf dem Kurznachrichtendienst X ein Video, das ihn auf der erzwungenen Ausreise aus der Schweiz via Fähre von Romanshorn nach Friedrichshafen zeigte und eines, das wohl auf einer Autofahrt von Friedrichshafen weg entstand. In beiden Videos äußerte er sich ausführlich zum Vorgefallenen.
Experte sieht typisches Verhalten
Nach Ansicht von Rechtsextremismus-Experte Dominik Hammer ist diese mediale Verwertung durchaus typisch für Sellner: „Sowohl für seine Selbstpräsentation als Aktivist, als auch für die Bewerbung seiner politischen Inhalte ist die mediale Verbreitung von Ereignissen wie der Festnahme hilfreich“, erklärt Hammer. Der Experte arbeitet für das Institute for Strategic Dialogue, eine Denkfabrik zur Extremismusforschung.
Ob der Grenzübertritt versehentlich war oder nicht, sei unerheblich, dadurch habe Sellner das Interesse aber noch steigern können. Schon Anfang des Jahres habe Sellner öffentlichkeitswirksam einen Grenzübertritt inszeniert, so Hammer.
Dennoch kein Online-Phänomen
Aufällig ist: Zwar erreicht Sellner online zehntausende Menschen – doch beispielsweise bei einer Lesung von ihm am Freitag in Ulm waren nach seinen eigenen Angaben nur 40 bis 50 Menschen. Hammer warnt aber davor, Sellner als reines Online-Phänomen zu begreifen.
So soll Sellner mit seinen Remigrations-Plänen der zentrale Redner beim rechten Geheimtreffen in Potsdam gewesen sein, das das Recherchenetzwerk Correctiv aufgedeckt hatte. Hammer geht davon aus, dass Sellner weiter eine relevante Größe in der rechtsextremen Szene bleibt – und dazu solche Ereignisse wie am Samstag nutzt. Er wolle „Medienerwähnungen schaffen, um relevant zu bleiben.“
Heißer Empfang von über 100 Demonstrierenden
Viel größer als Martin Sellners in Konstanz versammelte Anhängerschaft war am Samstag derweil eine spontane Gegendemo: Einer vom Bündnis Konstanz für Demokratie angemeldeten und organisierten Versammlung schlossen sich über 100 Menschen an. Die Polizei sicherte den Demozug ab, kurzzeitig gab es auch dicke Luft zwischen den Demonstrierenden und Sellners Anhang.

Die Protestierenden versammelten sich ab 9.45 Uhr vor dem Haupteingang am Lago, bevor sie sich über die Wiesenstraße auf den Weg in Richtung Schweizer Grenze machten. Sie skandierten immer wieder Rufe wie: „Sellner raus“, „Nazis raus“, „Say it loud, say it clear, refugees are welcome here (engl. für „sag es laut, sag es klar, Flüchtlinge sind hier willkommen“) sowie linke und antifaschistische Parolen.
Unter den Demonstrierenden waren neben augenscheinlichen Mitgliedern der linken Szene auch Teile von „Studis gegen Rechts“ sowie Anhänger der Grünen und der SPD, unter anderem war auch Gemeinderat Jan Welsch (SPD) gekommen. Auch Lokalpolitiker aus Kreuzlingen waren anwesend, darunter die SP-Nationalrätin Nina Schläfli und Charis Kuntzemüller-Dimitrakoudis, SP-Präsidentin der Stadt Kreuzlingen.

Katrin Brüggemann, die die Demonstration für das Bündnis Konstanz für Demokratie angemeldet hatte und als Versammlungsleiterin fungierte, löste die Protestaktion um 10.45 Uhr auf. „Ich bin sehr zufrieden mit der Versammlung“, sagte sie auf SÜDKURIER-Nachfrage vor Ort. „Trotz der Spontaneität sind viele Leute gekommen.“
Die Aktion sei erst am Vorabend auf verschiedenen Kanälen wie dem sozialen Netzwerk Instagram angekündigt worden, Brüggemann schätzte die Anzahl der Demonstrierenden auf 120 bis 130. Nach Polizeiangaben, die die Teilnehmerzahl mit ungefähr 100 angab, sei die Demonstration „weitestgehend friedlich“ verlaufen.