Am Anfang war das Inserat. „Frau sucht einen Mitbewohner, um eine Wohngemeinschaft in Konstanz zu gründen“, hieß es vor rund sechs Jahren in der unverfänglichen Annonce. Ein paar Menschen meldeten sich, ein Mann war besonders interessiert. Mails mit Informationen über Zimmer, Preise und Nebenkosten wurden hin und her geschickt, ehe es der Frau zu ungemütlich wurde (der Mailverkehr liegt dem SÜDKURIER vor). Der Mann benötigte nach eigener Angabe aufgrund einer bevorstehenden Gerichtsverhandlung lediglich eine feste Adresse. „Das war mir zu heikel und ich sagte ihm ab.“ Seither jedoch hat sie keine Ruhe mehr vor ihm.

„Zunächst sagte ich: Hey, du spinnst doch. Das ist doch kein Stalker.“
„Zunächst sagte ich: Hey, du spinnst doch. Das ist doch kein Stalker.“ | Bild: Schuler, Andreas

Zunächst habe sie die wiederholten Mails und Briefe nicht wirklich ernst genommen. Erst, als ein Freund darauf aufmerksam wurde, sie las und den Verdacht aussprach, hier könne höchstwahrscheinlich ein Stalker am Werk sein, wurde sie hellhörig. „Zunächst sagte ich: Hey, du spinnst doch. Das ist doch kein Stalker. Der ist halt nur ein wenig sauer, weil er das Zimmer nicht bekommt.“

Dann schöpfte sie Verdacht

Doch als er sich immer wieder auf unterschiedlichen Kanälen meldete, schöpfte sie Verdacht. Die Frau möchte ihren Namen nicht veröffentlichen und auch nicht mit ihrem Gesicht in der Zeitung oder im Internet erscheinen, da sie aufgrund der Situation Angst um Leib und Leben hat.

Laut der Stiftung Weißer Ring findet Stalking, was übersetzt „pirschen“ heißt, unter anderem Ausdruck „in wiederholter Kontaktaufnahme mittels verschiedener Kommunikationswege wie SMS, WhatsApp, Telefon oder Brief, in wiederholten Versuchen der persönlichen Kontaktaufnahme im persönlichen Umfeld der betroffenen Person wie Freizeitstätten, dem Wohnort oder am Arbeitsplatz oder der Verfolgung des Opfers“.

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Der Frau, die heute über 40 Jahre alt ist, wurde nun regelmäßig von dem Mann aufgesucht. Auf der Straße oder an ihrem Arbeitsplatz – immer wieder trat er für kurze Zeit in ihr Leben und verschwand dann wieder. „Das Ganze wurde mir dann doch unheimlich und ich habe die Polizei informiert“, erinnert sie sich an diese Zeit.

„Doch da es keine wirklichen Drohungen gab, konnten die Beamten auch nichts machen. Zumindest sagten die das damals.“ Sie bekam einen Stalking-Leitfaden an die Hand, nach dem sie sich richten könne. „Ich habe sofort Familie und Freunde unterrichtet und bin offen damit umgegangen“, sagt sie. „Und ich habe versucht mir zu notieren, wann und wo er mir aufgelauert hat.“

„Das Ganze wurde mir dann doch unheimlich und ich habe die Polizei informiert.“
„Das Ganze wurde mir dann doch unheimlich und ich habe die Polizei informiert.“ | Bild: Schuler, Andreas

Einmal waren die Schrauben ihres Fahrrades gelockert, ein anderes Mal die Räder zerstochen. Nachts klopfte es an ihrem Schlafzimmerfenster, ihre Türklingel wurde betätigt oder das Telefon klingelte und niemand antwortete. „Ich war im Schockzustand und hatte brutale Angst“, sagt sie gegenüber dem SÜDKURIER.

„Wer auch immer das war: Die Person hat das sehr geschickt gemacht, denn man konnte niemandem etwas nachweisen.“ Immer wieder erschien der Mann an ihrem Arbeitsplatz im Einzelhandel, mehrmals wechselte sie die Arbeitsstelle – in der Hoffnung, der Albtraum würde ein Ende haben. Vergeblich. „Er stand immer wieder da und sagte: Ich weiß, wo du arbeitest. Das war so unheimlich.“

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Als sie ein Bild von Renovierungsarbeiten auf Facebook teilte verbunden mit der Frage, ob jemand wisse, wie man eine defekte Mauer reparieren könne, erhielt sie wenige Tage später ein paar Säcke Mörtel zugeschickt. „Freunde und Familie haben mir versichert, dass sie nichts damit zu tun haben“, blickt sie zurück. „Die Firma, von der der Mörtel stammt, durfte mir nicht sagen, wer das veranlasst hat.“

Große Bandbreite von Stalkern

Jan Bulla ist medizinischer Direktor der Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit Schwerpunkt Forensische Psychiatrie am ZfP Reichenau. „Die Bandbreite bei Stalkern reicht von nicht psychisch krank bis hin zu eindeutig psychisch krank“, sagt er. „Es gibt aber auch Menschen, die sich einfach nur in etwas verrennen. Gerade nach dem Ende einer Beziehung.“

„Die Bandbreite bei Stalkern reicht von nicht psychisch krank bis hin zu eindeutig psychisch krank“, sagt Jan Bulla vom ZfP ...
„Die Bandbreite bei Stalkern reicht von nicht psychisch krank bis hin zu eindeutig psychisch krank“, sagt Jan Bulla vom ZfP Reichenau. | Bild: SK

Im vorliegenden Fall geht er von einer psychischen Erkrankung aus. „Menschen mit wahnhaften Störungen lassen sich selten vom Opfer davon überzeugen, dass ihr Verhalten falsch ist.“ Er geht aber davon aus, dass ein deutliches Signal einer Strafverfolgungsbehörde, dass sein Verhalten strafrechtliche Konsequenzen haben würde, einen Lerneffekt bewirken könne.

„Nicht der Angst hingeben, sondern den Schritt nach vorne wagen“

Ziel eines Stalkers ist laut Dieter Popp von der Konstanzer Polizei, Macht und Kontrolle über das Opfer zu erlangen. „Wichtig ist, dass man sich nicht der Angst hingibt, sondern den Schritt nach vorne macht. Das ist natürlich leicht gesagt. Aber es hilft, wenn man sich sein Leben nicht beeinflussen lässt.“ Im Fall der Konstanzerin war genau dies der Fall – ihr Leben wurde beeinflusst: „Ich habe mich daheim eingeigelt, da ich mich nur da sicher fühlte, und wollte auch nicht mehr zu meiner Tochter gehen, damit der Typ nicht weiß, wo sie wohnt. Ich will nicht, dass sie dasselbe mitmachen muss wie ich.“ Sie fühle sich wie auf einer ständigen Flucht.

„Wichtig ist, dass man sich nicht der Angst hingibt, sondern den Schritt nach vorne macht“, sagt Dieter Popp, Pressesprecher ...
„Wichtig ist, dass man sich nicht der Angst hingibt, sondern den Schritt nach vorne macht“, sagt Dieter Popp, Pressesprecher des Polizeipräsidiums Konstanz. | Bild: SK

Dieter Popp hofft, dass die Frau sich nun erneut an die Polizei wendet. „Wir haben heute viel mehr Möglichkeiten als damals, als sie zum ersten Mal bei uns war.“ Der spezielle Tatbestand der „Nachstellung“ unter Paragraf 238 wurde ins Strafgesetzbuch eingefügt und in den Paragraf 112a Strafprozessordnung aufgenommen, wo unter bestimmten Voraussetzungen und Gefährdungen ein Haftgrund zu Anordnung der Untersuchungshaft, man spricht auch von Deeskalationshaft, vorliegen kann. „Außerdem haben wir nun die Möglichkeit, einen solchen Menschen daheim aufzusuchen und ihm klar zu machen, dass er damit aufzuhören habe, da er damit viel Unheil anrichtet“, so Dieter Popp.

Auch Psychiater Jan Bulla rät der Frau, sich erneut der Polizei anzuvertrauen. „Es gab zwar offenbar keine offene Drohung gegen sie“, sagt er, „aber es wäre wichtig, ihm zu zeigen, dass man die Sache ernst nimmt.“ Für ihn ist der Mann kein klassischer Gewalttäter. „Stalker, die zur Gewalt neigen, sind erfahrungsgemäß ehemalige Partner oder Noch-Partner, die bisher ein unbescholtenes Leben geführt haben.“ Gewalthandlungen von Stalkern seien insgesamt jedoch eher selten.

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Nach einer Studie des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim werden fast zwölf Prozent aller Menschen in Deutschland im Laufe ihres Lebens mindestens einmal gestalkt. Mit einem Anteil von über 80 Prozent sind dabei Frauen als Opfer überrepräsentiert, während die Täter überwiegend männlich sind. Viele Opfer berichten, dass sie in starkem Ausmaß verfolgt und in ihrem Leben massiv beeinträchtigt wurden.

Die physischen und psychischen Auswirkungen sind für Opfer häufig erheblich und führen nicht selten zu schweren Traumata. „Es gibt Nächte, da kann ich nicht schlafen“, berichtet die Konstanzerin. „Oft traue ich mich nur mit Pfefferspray aus dem Haus. Diese ständige Unsicherheit ist zermürbend. Ich habe doch noch nie irgendjemandem etwas getan.“