Noch gibt es kein Urteil, der Schrecken aber steht fest. Im Prozess vor dem Landgericht Konstanz gegen die vier Hauptverdächtigen in einem Fall erpresserischen Menschenraubs fährt es den Beobachtern bei den Schilderungen des Opfers zwangsläufig in die Knochen. Per Telefon- beziehungsweise Videoschalte berichtet der 19-Jährige über die Folter, der er in der Nacht zum Ostermontag diesen Jahres durch seine Peiniger ausgesetzt ist. Aus Angst macht er seine Aussagen an einem geheim gehaltenen Ort, eben deshalb auch gibt es nicht die sonst vor Gericht üblichen Angaben über seinen aktuellen Wohnsitz und sonstigen persönlichen Verhältnisse.
Der Schrecken durchdringt selbst den Schirm der anwaltlichen und richterlichen Roben. Jens Janssen beispielsweise vertritt einen der Angeklagten, seine Befragung des Opfers aber versieht er ausdrücklich mit der Vorrede, dass es für ihn keine Zweifel an der Tat gibt. Es gehe einzig um die Rekonstruktion des Geschehens in jener Nacht, und wenn beim Opfer dabei durch die Stresssituation oder die psychologisch nachvollziehbare Verdrängung nicht mehr alles in Erinnerung sei, dann sei das völlig in Ordnung. Das Leid des jungen Mannes – es wiegt wohl mehr als der anwaltliche Auftrag zur Verteidigung.
Nach dem zweiten der insgesamt auf drei Tage angesetzten Prozess lässt sich das Geschehen wie folgt zusammenfassen: Der 19-Jährige befindet sich am Abend des 17. April mit einer Freundin an einer Bushaltstelle in Konstanz, als er von zwei der mutmaßlichen Täter aus einem Auto heraus erkannt wird. Der 19-Jährige ist ihnen Geld aus Drogenkäufen schuldig, der Betrag soll sich auf 300 Euro belaufen. Die Männer steigen aus, hindern ihr Opfer am Besteigen des gerade anfahrenden Busses und zwingen ihn zum Mitkommen. Mit dem Auto, das von einer Freundin der mutmaßlichen Täter gefahren wird, fährt man zu einer angemieteten Ferienwohnung in der Fürstenbergstraße. Mit im Auto befindet sich eine weitere junge Frau auf dem Beifahrersitz.
Simulation von Hinrichtungen
In der Wohnung muss der 19-Jährige – seinen Schilderungen zufolge – den Oberkörper frei machen, er wird an einem Stuhl fixiert. Gegen 22 Uhr steigert sich die Tortur. Der Mann wird mit einem Teleskop-Schlagstock, Faustschlägen und einer Rohrzange malträtiert, ihm wird mit der Abtrennung von Gliedmaßen gedroht, man verbrüht ihm eine Hand mit heißem Wasser, es werden Hinrichtungssituationen simuliert, er muss Ketchup vom Boden auflecken, und einer der Peiniger fordert die anderen Gruppenmitglieder auf, dass sie das Opfer in seiner kurzzeitigen Abwesenheit „wegmachen sollen“.
Dabei haben es die zwei Männer aus dem Fahrzeug sowie zwei andere männliche Mitglieder der Bande nach Angaben des 19-Jährigen lustig. Eine der beiden Frauen, die sich in der Wohnung befindet, aber sich weitgehend abseits hält, soll sich an den Schlägen beteiligen. Das sei lustig, heißt es, aber dabei macht die Frau nicht mit. Zwischendurch wird das Opfer zum Anrufen bei möglichen Geldgebern gezwungen, wobei sich die angebliche Schuld auf 1000 Euro erhöht. Gegen 6 Uhr in der Frühe schließlich hört die Folter auf – allerdings fixieren die Peiniger ihr Opfer mit Gürteln an einem Balken, verstopfen seinen Mund mit einer Socke und verschließen seine Augen mit einer Binde.
Doch dem 19-Jährigen gelingen Befreiung und Flucht, ein Sondereinsatzkommando bekommt die mutmaßlichen Täter zu fassen. Für Polizei und Justiz handelt es sich um keine Unbekannten, wovon es an diesem zweiten Verhandlungstag einen weiteren Beleg gibt. Es geht um einen Vorfall Anfang Februar diesen Jahres im Aquaturm in Radolfzell. Einer aus dem Täter-Quartett hat die Suite des Hotels angemietet und anfänglich sieht nach Angaben des Eigentümers alles friedlich aus. Zirka ein halbes Dutzend junge Personen sitzen beieinander, so erzählt er, doch das Treffen artet in eine Party mit deutlich mehr Teilnehmern aus.
Der Hotelier will Fünfe grade sein lassen und setzt eine Frist bis Mitternacht, dann müsse Schluss sein. Kurz danach begibt er sich mit einem Freund auf einen Kontrollgang und stellt fest, dass man sich nicht an die Abmachung hält – es liegen Scherben herum, das Mobiliar weist Flecken auf. Es folgt die Aufforderung zum sofortigen Verlassen des Hauses, an die sich manche der Gäste halten. Unvermittelt kommt es dann zu Gewaltausbrüchen. Der Eigentümer und sein Freund werden von zwei Männern aus dem Quartett niedergeschlagen, die Verletzungen sind schwer, hinterlassen glücklicherweise aber keine bleibenden Schäden.
Suche nach den Beweggründen
Richter, Staatsanwältin und Anwälte beschäftigen sich auch in diesem Fall eingehend mit den Tatumständen, etwa mit den Einflüssen von Drogen, Alkohol oder gruppendynamischen Prozessen. Bei der Einordnung dienlich sein könnten die Entschuldigungen der Angeklagten – sie gibt es sowohl zum Fall des erpresserischen Menschenraubs als auch für das Geschehen im Aquaturm. Aber sind sie glaubhaft? Und können die Opfer sie angesichts der Schwere der Taten überhaupt annehmen? Die Tonlage und Einsilbigkeit der Entschuldigungen jedenfalls lassen Zweifel an der Aufrichtigkeit der bekundeten Reue zu.
Wie schwierig die juristische Einordnung wird, zeigen die Reaktionen der Opfer. Der 19-Jährige, der infolge der Folterungen bis heute unter Panikattacken leidet, gibt während seiner Schilderungen zu verstehen, dass er keinen Wert auf Entschuldigungen legt – offensichtlich möchte er das Ganze am liebsten nur vergessen können. Später nimmt er dann die Entschuldigung doch an, wobei sich jedoch der Eindruck einer von Angst gesteuerten Aussage nicht ausschließen lässt. Großmütig dagegen gibt sich der Besitzer des Aquaturms, der sein Bedauern darüber kundtut, dass er die Situation nicht richtig eingeschätzt habe. Einzig sein Freund wirkt beim Thema Schuld und Sühne authentisch. Auf die Entschuldigung des Mannes, der die Suite angemietet hat, sagt er: „Wie kann man so etwas entschuldigen, wenn man halb tot geschlagen wird?“
Ungünstige Sozialprognose
Die Frage lässt sich auch gutachterlich nicht beantworten. Die Sozialprognose für einen der mutmaßlichen Täter zeigt, dass neben dem Schrecken bei Richter Joachim Dospil noch etwas anderes feststeht. Mit Blick unter anderem auf die Bemühungen der Mutter, die ihren Sohn immer wieder vom kriminellen Weg abzubringen versucht, wählt er die direkte Ansprache des jungen Mannes. „Das ist alles so traurig, wenn man bedenkt, was Ihre Mutter schon alles probiert hat.“
Der Prozess wird am Mittwoch, 7. Dezember, ab 9 Uhr vor dem Landgericht Konstanz fortgesetzt