Torsten Lucht: Frau Hauptmann, es gab in den Sozialen Medien viel Zuspruch für Ihren Vorschlag eines Utopias für Corona-Leugner, Verschwörungsmystiker und Extremisten. Ich verstehe den literarischen Plot, als Journalist aber habe ich mich aufgeregt. Das wäre ja noch schöner, wenn diesen Leuten auch noch ein eigenes Staatsterrain zur Verfügung gestellt würde...

Gaby Hauptmann: Und ich denke, dass es das Vorrecht von Schriftstellern ist, sich etwas auszudenken. Wenn wir das nicht mehr machen, wer macht es dann? Das Video ist übrigens von vielen missverstanden worden – wohl, weil sie nicht recht zugehört haben. Es geht eben nicht um normale Querdenker und Andersdenkende – davon lebt ja eine Demokratie. Es geht auch nicht um die richtigen oder falschen Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung, es geht rein um die Respektlosigkeit, wie manche Menschen mit dem Leben ihrer Mitbürger umgehen.

Torsten Lucht: Der Kern des Problems bleibt: Ich bin gegen ein eigenes Land für Vollpfosten!

Gaby Hauptmann: Der Reiz der Idee besteht eben darin, dass diese ganzen radikalen Querdenker, Masken-Verweigerer, Impfgegner und überhaupt alle Extremisten bis hin zu den Reichsbürgern einfach mal selber Verantwortung übernehmen sollten. Immer nur dagegenreden und sich wütend gegen alles Mögliche aufzulehnen, ist einfach. Ich bin davon überzeugt, dass die schnell am Ende wären, wenn sie selber was auf die Beine stellen müssten. Es ist empörend, wie diese Leute von der Demokratie leben und sie schamlos ausnutzen. In ihrem Utopia könnten sie dann meinethalben gern tagelang unter ihrer Reichsflagge marschieren. Wie wär‘s mit dem Mars? Die Chinesen nehmen ja schon Bodenproben...

Torsten Lucht: Eine verführerische Idee. Verständlich auch, dass man in einem emotionalen Moment darauf verfällt. Aber erstens haben solche Bewohner keinen Landstrich verdient, nicht einmal den Mars; und zweitens sollte sich niemand die Hoffnung machen, dass diese Leute unter der Reichsflagge dann immer schön im Kreis marschieren. Die bleiben nicht wo sie sind, sondern überfallen die Nachbarn. So gesehen funktioniert die Geschichte noch nicht einmal in der Literatur.

Gaby Hauptmann: Es sei denn, man malt sich das etwas anders aus. Wenn sich alle Extremisten jeder politischen oder gesellschaftlichen Couleur auf einem Platz wiederfänden, dann würde schon allein diese Zusammenkunft interessant werden. Und dann die Infrastruktur. Und die Lebensmittelversorgung. Während die einen vermutlich voll auf Bio setzen würden, gingen die anderen mit der Pestizid-Schleuder über die Felder. Übrigens das gleiche Dilemma, mit dem wir hier ja auch zu kämpfen haben: Hohe Subventionen für Tier-Masse und Anbau-Fläche, aber die, die sich wirklich um ihre Landwirtschaft, um ihre Tiere und Pflanzen bemühen, gehen vergleichsweise leer aus. Es wäre also interessant zu sehen, wie die Weltverbesserer ihre Lebensmittelversorgung in den Griff bekommen.

Torsten Lucht: Ein gefährliches Experiment, denn eine schräge Gedankenwelt lässt sich nicht dadurch reparieren, indem man sie an die Wand fährt. Das macht den Hals nur noch dicker als er ohnehin schon ist. Zum Beispiel im Fall von Gaby Hauptmann: Ihre Internet-Botschaft ist ja nichts anderes als eine im Ansatz wütende Reaktion auf die Wutbürger, Verschwörungsmystiker und Realitätsverweigerer...

Gaby Hauptmann: ... auf alle Fanatiker. Religiöse oder politische Fanatiker erreichen ja für niemanden etwas Gutes – sie hinterlassen Zerstörung und Chaos. Und trotzdem breiten sich mittelalterliche Verschwörungstheorien aus. So wie QAnon, deren Anhänger glauben, dass sie in der Endzeit leben und dass ein Messias wie beispielsweise Donald Trump die Verschwörungen zwischen Juden und Frauen aufdecken wird. Vielleicht leben wir ja in einer Endzeit, aber die haben wir Menschen uns durch unsere skrupellose Gier selbst zuzuschreiben. Aber die Menschen haben schon immer einen Verursacher für ihre eigene Unfähigkeit, für ihr eigenes Leid gesucht, den Teufel, den es zu vernichten galt – allerdings zu einer Zeit, als der Aberglaube ein beherrschendes Teil ihrer Welt war. Dass sich solche Schreckens-Theorien heute wieder ausbreiten, zeigt, dass nicht nur Corona ansteckend ist – sondern offenbar auch Psychosen.

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Torsten Lucht: Ein Webfehler in Ihrer literarischen Idee eines Utopia besteht außerdem darin, dass da eine reichlich plurale Gesellschaft zusammenkommt. Nehmen Sie zum Beispiel die Gegner von Stuttgart 21. Da waren und sind noch immer viele Wutbürger unterwegs. Und Sie und ich – wir sind ja auch mit vielem nicht einverstanden, was hierzulande und überhaupt in der Welt abgeht. Jedenfalls ist der Gedanke nicht an den Haaren herbeigezogen, dass wir beide bei irgendeinem Protest mitmachen und dann taucht da plötzlich jemand aus der Hooligan- oder Reichsflaggen-Fraktion an unserer Seite auf. Die Frage ist doch: Wo zieht man die Grenzen für Ihr Utopia?

Gaby Hauptmann: Zunächst einmal ist es vollkommen in Ordnung, wenn man anders denkt und seine Ansichten dann im Protest zum Ausdruck bringt. Voraussetzung dafür aber ist, dass man denkt. Und dann geht es auch darum, inwieweit man mit seiner Haltung und Denkungsart anderen schadet. Wer Corona leugnet und mit seinem Verhalten seine Mitmenschen durch Ansteckung gefährdet, wer mit wilden Phantasien anderen Menschen absurde Absichten wie etwa die angebliche Verwendung von Kinderblut als Jungbrunnen für ältere Frauen unterstellt, auch die Hooligans, die über den SAP-Chef und Sponsor Dietmar Hopp im Internet ein Fadenkreuz legen, und diese AfD-ler, die Frauen am liebsten wieder zum blond-bezopften Heimchen am Herd degradieren wollen – also ich habe da überhaupt kein Problem, die allesamt in einen Topf zu werfen. Sie und ich, wir gehören gewiss auch in einen Topf. Aber das ist ein ganz anderer.

Torsten Lucht: Einverstanden. Aber das Problem wurzelt tiefer. Es finden bedenkliche Okkupationen statt, allein schon sprachlich. Nehmen sie dieses herrliche Wort vom Querdenker. Lange bevor dieser Begriff seine üble Popularität erfahren hat, nutzte die Singener Anwaltskanzlei Reichert und Reichert den Ausdruck für seine Unternehmenszeitung. Das Unternehmen hat sich entschieden, den Titel beizubehalten, obwohl dadurch bei flüchtiger Lesart jetzt womöglich der Eindruck entstehen könnte, dass die Kanzlei unter die Corona-Leugner gegangen sein könnte. Ähnlich ist es beim Begriff der Verschwörungstheorie. Dahinter stehen doch keine Theoretiker, das sind doch eher Auguren, die in tierischen Eingeweiden oder Glaskugeln über die Zukunft der Welt orakeln. Als Schriftstellerin muss Sie das empören wie da mit Ihrem Werkstoff umgegangen wird – genauso wie mich als Journalist.

Gaby Hauptmann: Tut es auch...

Torsten Lucht: ... und deshalb nochmals zurück zur Grenzbestimmung. Konkret: In der aktuellen Diskussion geht es darum, ob Corona-Leugner und Impfgegner schlechter gestellt werden sollen.

Gaby Hauptmann: Ja, sie sollen. Bloß ist die Diskussion jetzt natürlich viel zu früh. Das kann erst gelten, wenn jedem Einzelnen der Impfstoff zugänglich ist… also vielleicht in einem Jahr. Wieso sollte ich mich beispielsweise im Flugzeug neben jemanden setzen, der sich nicht impfen lässt und damit für andere zur Gefahr wird? Wir wissen ja noch gar nicht, ob ich den Virus trotz Impfung nicht weitertragen und jemanden anstecken kann, der dann im Krankenhaus landet. Ich nenne das Körperverletzung. Ich verstehe diese in meinen Augen falsche Rücksichtnahme auch in anderen Zusammenhängen nicht. Wenn zum Beispiel Sonntagstouristen mit Flip Flops ins Gebirge zum Wandern gehen, dann wissen die doch, welchen Gefahren sie sich aussetzen. Und wie bei den Corona-Leugner wird dann selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie im Falle eines Falles gerettet werden. Doch die Menschen, die sie retten, seien es nun bei Corona Ärzte und Pflegepersonal, oder im Berg die Bergretter, bringen sich durch solche ignoranten Mitbürger selbst in Lebensgefahr. Was mich ärgert ist, dass solche Typen, sobald es ihnen selbst an den Kragen geht, ganz selbstverständlich nach dem System greifen, das sie vorher verächtlich abgetan haben. Und noch besser ist, dass die Retter dann auch noch juristisch angegangen werden können, wenn sie bei der Abwägung das eigene Leben, die eigene Gesundheit nicht riskieren wollen. Das halte ich für geradezu irrwitzig.

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Torsten Lucht: Die Triage ist hierzulande zum Glück (noch) keine akute Frage in den Intensivstationen. Aber gesetzt den Fall, es wäre so: Würden Sie einen Patienten, der sich wegen seiner Corona-Leugnung infiziert und auf intensivmedizinische Hilfe angewiesen ist, hinten anstellen?

Gaby Hauptmann: Ich würde in so einem Fall nach der Eingangsliste der Patienten vorgehen.

Torsten Lucht: Also in diesem Fall keine Schlechterstellung?

Gaby Hauptmann: Nein. Aber vielleicht besteht noch die Chance, solche Situationen zu vermeiden. Die Corona-Leugner sollte man einfach mal in Kliniken zeigen, was da abläuft. Wenn sie sich gegenüber Pflegekräften und Ärzten rechtfertigen müssen, hört das Geschwafel von der „Nur-Grippe“ und „jährlichen Unfalltoten“ sicherlich auf. Oder sie sollten sich mal mit Infizierten unterhalten, die als genesen gelten, aber unter den Spätfolgen leiden. Selbst bei jungen Top-Sportlern gibt es extreme Nachwirkungen. Ich begreife einfach nicht, wie man das ausblenden kann.

Torsten Lucht: Zurück zu den Grenzbestimmungen. Es ist längst nicht so, dass die Extreme nur auf der Straße, in den Sozialen Medien oder etwa beim Thema Corona ausgetestet werden. Grenzüberschreitungen sind auch in der Literatur feststellbar – also in Ihrem Soziotop. Ich nenne da mal die Werke „Munin oder Chaos im Kopf“ von Monika Maron oder „Der rechtschaffene Mörder“ von Ingo Schulze. Die darin enthaltenen Gedankenmodelle müssen vor dem aktuellen gesellschaftspolitischen Hintergrund mindestens irritieren, sie lassen sich passagenweise aber auch als rechtfertigende Stücke für extreme Haltungen lesen. Lässt Sie das kalt?

Gaby Hauptmann: Kalt? Nein, ich finde es interessant. Zunächst musste Monika Maron ja auch mal auf diese Buch-Idee kommen. Und das ist ja der Zauber der Schriftstellerei, sich Dinge auszudenken, wie sie sein könnten, wie sie ineinander übergreifen, sich weiterentwickeln, zur großen Eulenspiegelei werden – oder eben nicht. So wäre es auch, wenn ich dieses von mir erdachte Stück Land „Utopia“ weiterentwickeln würde: Die ersten sehr unterschiedlichen Bewohner kommen – was passiert? Wie gehen sie miteinander um? Sehr oft ist der Anstoß für so ein Gedankengang ja die Realität. Nur wird dieser erste Gedanke dann eben weitergedacht, kann extrem werden, führt am Schluss in Angst oder Befreiung. Wenn Schriftsteller diese Gedankenmodelle nicht mehr ausprobieren, wer soll es dann tun?

Torsten Lucht: Bei Ihrem Utopia-Einwurf im Internet: Ist das nun ein politischer Beitrag von Gaby Hauptmann in ihrer Funktion als öffentliche Person des Lebens oder das Konzept für ein Buch in der Form einer Farce?

Gaby Hauptmann: Es war ganz einfach ein Moment, da ich mich über Menschen geärgert habe, die sich über alles hinwegsetzen. Die aus religiösem Fanatismus oder weil sie politisch links- oder rechtsextrem sind, andere umbringen. Und dies im Glauben, dass sie als Vertreter der einzigen Wahrheit das Recht dazu hätten. Es gibt aber viele Wahrheiten, die erkennt man aber nicht, wenn man mit einem Tunnelblick durch die Welt läuft. Es war also weder die öffentliche Person noch die Schriftstellerin, auch nicht die Journalistin, sondern einfach die Gaby Hauptmann, die ihre Meinung gesagt hat. Und weil gerade niemand da war, habe ich halt zum Smartphone gegriffen. Aber das schließt, jetzt, wo Sie es sagen, ein literarisches Stück ja nicht aus.

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