Als der junge Schweizer an jenem Abend Mitte Oktober im Bahnhof Konstanz seinen Zug nach Winterthur auf Bahnsteig 2 stehen sieht, muss er eine Entscheidung treffen. Denn er befindet sich noch auf Bahnsteig 1. Dazwischen liegen entweder ein kurzer Weg über zwei Gleise oder ein langer über die Unterführung. Erlaubt ist nur einer von beiden.

Der 21-Jährige wählt die schnellere Variante, was der Bundespolizei nicht verborgen bleibt. Plötzlich geht es auf dem Bahnhof zu wie in einem Gangsterfilm. Der Mann rennt auf der Flucht vor den Beamten durch den Zug, springt aus dem letzten Waggon und eilt nun doch der Treppe zu. Eine Polizistin stellt sich ihm in den Weg: Haaalt, stehenbleiben! Er versucht sich von ihr loszureißen, beide fallen zu Boden. Als ihre Kollegen herankommen und sich auf den jungen Mann stürzen, endet die wilde Hatz.

(Archivbild) Häufiger Tatort bei Fällen von Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte: der Bahnhof Konstanz.
(Archivbild) Häufiger Tatort bei Fällen von Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte: der Bahnhof Konstanz. | Bild: Maike Stork | SK-Archiv

Die kurze, aber heftige Episode ist ein typisches Beispiel von Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. 2022 wurden im Landkreis Konstanz nach Auskunft des Polizeipräsidiums 61 Fälle gezählt – das sind nur zwei mehr als der Durchschnitt der Jahre seit 2018.

Fast immer ist das Vergehen mit anderen Taten wie Bedrohung, Körperverletzung oder gefährlicher Eingriff in den Bahnverkehr verbunden. „Ich bin seit 2014 zugelassen und hatte seitdem lediglich einen Fall, in dem nur Widerstand angeklagt war“, sagt der Konstanzer Strafverteidiger Andreas Hennemann. Zuweilen falle der Vorwurf unter den Tisch, weil die anderen Taten allein schwer genug wiegen.

Rechtsanwalt Andreas Hennemann bekommt es als Strafverteidiger auch mit Fällen von Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte zu tun.
Rechtsanwalt Andreas Hennemann bekommt es als Strafverteidiger auch mit Fällen von Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte zu tun. | Bild: Sven Frommhold

Auch in einem Prozess gegen einen 48-jährigen Wohnungslosen, der Mitte Oktober am Amtsgericht Konstanz angesetzt war, kam Hennemann als Pflichtverteidiger zum Einsatz. Sein wegen einer psychischen Erkrankung unter Betreuung stehender, aber schwer greifbarer Mandant war Anfang 2022 ebenfalls am Konstanzer Bahnhof kontrolliert worden, weil er sich auffällig benahm. Dabei beleidigte er die Bundespolizisten und wehrte sich heftig, als sie ihn in Gewahrsam nehmen wollten.

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Polizisten werden im Umgang mit Konflikten geschult

Situationen wie diese sind auch für die Ordnungshüter immer wieder knifflig, wie die Konstanzer Polizeisprecherin Katrin Rosenthal weiß. „Die Beamten werden deshalb regelmäßig im Umgang mit Konflikten geschult.“ Dabei stehe aber nicht nur das richtige Verhalten und Vorgehen bei unschönen Reaktionen und Angriffen im Mittelpunkt, sondern ebenso die eigene Psyche. Wie gehe ich damit um, angeschrien, bespuckt oder gar getreten, gebissen und geschlagen zu werden? Sowohl in der Situation als auch später, wenn man daheim auf dem Sofa sitzt und die Schicht sacken lässt.

Obwohl es die Fallzahlen beim Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte allein nicht hergeben: Respekt und Akzeptanz gegenüber den Staatsdienern sinken laut Polizeipräsidium. Deshalb komme es heute häufiger zu tätlichen Angriffen auf Polizisten, wie Katrin Rosenthal sagt. „In vielen Situationen werden die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen und das Einschreiten der Polizei von vornherein in Frage gestellt.“

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Und die Polizisten? Provozieren sie solche Reaktionen durch ihr Verhalten manchmal auch selbst? Wie viele Anzeigen werden gegen Beamte gestellt, weil sie etwa Betrunkene zu schnell und zu heftig angepackt haben oder bei einer Demonstration rabiat mit Teilnehmern umgegangen sein sollen? 2022 waren es laut der Hauptkommissarin im Landkreis Konstanz genau sechs. Ein Verfahren läuft noch, die anderen fünf wurden durch die Staatsanwaltschaft eingestellt. Ermittelt werde genauso objektiv und neutral wie in jedem anderen Fall auch, versichert Rosenthal.

Oft handelt es sich bei solchen Anzeigen um Gegenreaktionen auf das Einschreiten der Polizei. „Die meisten sind völlig substanzlos“, sagt Andreas Mathy, Erster Staatsanwalt der Staatsanwaltschaft Konstanz. Pro Jahr gebe es nur ein Verfahren, das nicht mit einer Einstellung, sondern einem Strafbefehl oder einer Anklage gegen einen Beamten ende. Für die Fälle gebe es in der Regel spezialisierte Ermittler innerhalb der Polizei – zum Teil werden andere Polizeipräsidien oder das Landeskriminalamt eingeschaltet, um Vorwürfe gegen eigene Beamte zu klären.

Hat es selten mit ernsten Vorwürfen gegen Polizisten zu tun: Andreas Mathy, Erster Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Konstanz.
Hat es selten mit ernsten Vorwürfen gegen Polizisten zu tun: Andreas Mathy, Erster Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Konstanz. | Bild: Oliver Hanser

Anwalt: „Ich bin überzeugt, dass sie korrekt vorgehen“

Auch Strafverteidiger Hennemann vertraut den Polizisten. „Ich bin überzeugt, dass sie korrekt vorgehen und sich deeskalierend verhalten, so wie sie das lernen.“ Er selbst hat in seiner Praxis als Anwalt noch keinen Fall von Polizeigewalt erlebt. „Natürlich erzählen Mandanten manchmal, dass sie geschlagen wurden – aber das war meist situationsbedingt.“ Soll heißen: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Und wer sich heftig wehrt, ist meist nicht mit Streicheleinheiten unter Kontrolle zu bringen.

Der Mann vom Bahnhof Konstanz – nicht der Schweizer Zugreisende, sondern Andreas Hennemanns Mandant – erschien am Tag seiner Verhandlung nicht vor Gericht. Damit war sein Einspruch gegen den Strafbefehl hinfällig. 400 Euro Geldstrafe müsste er nun bezahlen oder die verhängten Tagessätze, die sich zu dieser Gesamtsumme addieren, im Gefängnis absitzen. Für den 48-Jährigen geht es dabei um mehr als drei Monate hinter Gittern.

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Im März/April ist die Kriminalstatistik für 2023 zu erwarten. Wer darauf wetten möchte, dass die Zahl der Fälle von Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte im Landkreis Konstanz im Vergleich zu 2022 gestiegen ist, dürfte nur eine niedrige Quote und damit einen kleinen Gewinn für seinen Einsatz bekommen. Denn allein mit den Blockadeaktionen der Letzten Generation vorm Lago und an der Schänzlebrücke in Konstanz kamen wohl mindestens zehn dazu.

Das liegt aber auch an der rechtlichen Bewertung. „Laut aktueller Rechtsprechung erfüllen das Festkleben beziehungsweise Einbetonieren, verbunden mit dem anschließenden Lösen und Wegtragenlassen durch die Polizei, diesen Tatbestand“, meint Polizeisprecherin Katrin Rosenthal. Ebenso sieht es Andreas Mathy von der Staatsanwaltschaft. Dagegen ist Strafverteidiger Andreas Hennemann hin- und hergerissen. „Die Rechtsprechung dazu ist in Deutschland uneinheitlich. Man muss darüber diskutieren.“

(Archivbild) Ist das Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte? Eine Aktivistin der Letzten Generation hat sich in Konstanz auf der Straße ...
(Archivbild) Ist das Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte? Eine Aktivistin der Letzten Generation hat sich in Konstanz auf der Straße festgeklebt. | Bild: Oliver Hanser | SK- Archiv

Darüber diskutieren, das wird er wohl auch tun, wenn der erste Konstanzer Klimakleber-Prozess stattfindet. Am 27. November ist ein Termin gegen Aktivisten, die im Februar 2023 vorm Lago die Straße blockiert hatten, noch geplatzt. Der neue Verhandlungstag steht bisher nicht fest. Hennemann vertritt in dem Fall einen der vier Angeklagten.