Es ist ein Albtraum. Das eigene Kind oder Enkelkind geht in der Konstanzer Innenstadt aus, und morgens kommt der Anruf aus dem Krankenhaus: Nach einem Angriff mit einem Messer musste der Sohn notoperiert werden, es bestand Lebensgefahr.
Was die Familien und Freunde der 17, 18 und 19 Jahre jungen Leute aus Konstanz, ihre Begleiterinnen und deren Angehörige durchmachen mussten, lässt sich nicht ermessen. Sie alle werden diesen 2. Februar wohl niemals vergessen können. Für sie wird es das Datum bleiben, an dem sie aufgehört haben, sich in der eigenen Stadt sicher zu fühlen.
Doch die Messer-Attacke auf die drei Männer ist auch ein Angriff auf die ganze Gesellschaft. Nicht nur bei den direkt Betroffenen ist das Sicherheitsgefühl weiter beschädigt. Wer heute Sohn oder Tochter vor dem Ausgehen verabschiedet oder wer selbst in den öffentlichen Raum geht, tut das in einer anderen Verfassung als noch vor wenigen Tagen.
Auch durch den Fahndungsaufruf nach Männern, die mit ausländischem Akzent sprechen, ist plötzlich ein fernes, abstraktes Problem ganz nahe gekommen und ganz konkret geworden. Auch dafür stehen die Blutspuren in der Wessenbergstraße, die ein furchtbares Zeugnis ablegen von der Brutalität, mit der die Täter vorgegangen sein müssen.
Was besonders beunruhigt, ist die Heimtücke, die gerade in Messerangriffen steckt. Im Sicherheitsbericht des Landesinnenministeriums heißt es dazu wörtlich: „Messer können auf vielfältige und leichte Weise verdeckt, aber trotzdem griffbereit am Körper getragen werden. Den überraschten Opfern bleibt meist keine Zeit zu reagieren, was lebensgefährlich enden kann.“
Es entsteht das Gefühl: „Es hätte auch mich treffen können“
Genau das mussten die drei jungen Männer in der Wessenbergstraße am eigenen Leib erfahren. Ein öffentlicher Ort, eine allgegenwärtige Waffe: Da entsteht schnell das Gefühl von „Es hätte auch mich treffen können“.
Auch was bisher über den konkreten Tathergang bekannt ist, erregt Besorgnis. Die drei jungen Männer sind mit Freundinnen unterwegs. Die jungen Frauen werden, so sagen Augenzeugen, obszön beleidigt. Die Männer wollen ihre Begleiterinnen schützen und bezahlen dafür fast mit dem Leben.
Es ist eine doppelte Verrohung – erst keinerlei Respekt vor Frauen, dann äußerste Brutalität gegen diejenigen, die sich für die Selbstbestimmung ihrer Freundinnen einsetzen. Das alles ist nicht hinnehmbar, und für solche Taten kann es auch keine mildernden Umstände geben.
Und, auch das gehört zur Wahrheit, der potenzielle Mordversuch in der Innenstadt ist eben kein isolierter Einzelfall. Im Bereich des Polizeipräsidiums mit den Kreisen Konstanz, Tuttlingen, Schwarzwald-Baar und Rottweil sind 2023 (neuere Zahlen liegen nicht vor) 222 Messerangriffe registriert worden. Und die Zahlen sind zuletzt gestiegen, wenngleich die Polizeistatistik in diesem Bereich etwas widersprüchlich ist.
Die Polizeistatistik zeichnet ein beklemmendes Bild
Von 200 Tatverdächtigen, die die Polizei ermitteln konnte, hatten 113 nichtdeutsche Staatsangehörigkeit. Das liegt weit über dem Anteil Nichtdeutscher in der Gesamtbevölkerung. Dass das Messerproblem längst ein Teil der Migrationsdebatte ist, ist also kein rechtes Framing, sondern hat eine faktische Grundlage.
Wer nun also vorschnell warnt, den Konstanzer Vorfall in eine Reihe mit Wangen im Allgäu, Solingen, Aschaffenburg sowie weiteren Gewaltdelikten zu stellen und das gleich als politische Vereinnahmung kritisiert, sollte mal kurz innehalten.
Messerattacken sind ein tatsächliches und von weiten Teilen der Gesellschaft so wahrgenommenes Problem. Was wäre eine Politik wert, die sich solche Anliegen nicht zu eigen machen würde? Etwas nicht wahrhaben zu wollen, ist Verleugnung der Wirklichkeit und hat noch nie zu einer Lösung beigetragen.
Genauso verwerflich ist es aber, auf dem Rücken der Konstanzer Opfer wie auch aller Menschen mit Migrationshintergrund aus der Gewalttat in der Wessenbergstraße mit Hetze und dem Schüren von Angst politisches Kapital zu schlagen. Jede dieser furchtbaren Straftaten hat ihre eigene Geschichte, ihre eigenen Hintergründe und ihre eigenen Erklärungsmuster.
Wer mehr Sicherheit will, muss auf Freiheit verzichten
Was diese Fälle verbindet, ist, dass es dem Staat jeweils nicht gelungen ist, die Sicherheit seiner Bürger zu garantieren. Das ist der bittere Preis einer freiheitlichen Gesellschaft. Wer nun also ganz schnell nach mehr Sicherheit ruft, muss erklären, welche Einschränkungen der Freiheit er oder sie über unsere Gesellschaft stülpen oder selbst hinnehmen will.
Konstanz bleibt nach der Tat vom Sonntagmorgen nicht nur als Schauplatz eines Verbrechens zurück, sondern wird in der Folge auch einen anderen Wahlkampf erleben. Niemand, der oder die ernsthaft einen Sitz im Deutschen Bundestag anstrebt, wird um eine Antwort auf die Frage herumkommen, wie sich solche schrecklichen Taten erklären, verhindern und aufarbeiten lassen.
Es geht um den Respekt und die Regeln des Zusammenlebens
Und nochmals: Ja, das hat auch etwas damit zu tun, dass es Menschen gibt, die die Regeln unseres Gemeinwesens verachten und die, aus ganz verschiedenen Gründen, überdurchschnittlich gewaltbereit sind. Die Polizeistatistik sagt, dass unter den Tätern zunehmend junge Männer ausländischer Nationalität sind.
In Konstanz, wo man sich so gerne auf einer Insel der Glückseligen wähnt, ist das Erschrecken groß. Jetzt ist der Ernstfall da. Jetzt müssen wir Klartext reden darüber, wie wir zusammen leben und gemeinsam um Lösungen ringen wollen.
Es ist ein Angriff auch auf die ganze Gesellschaft
Der oder die Täter aus der Fußgängerzone haben in einer Zeit der Polarisierung leider nicht nur Gewalt gegen ihre direkten Opfer – drei junge Männer und drei junge Frauen – ausgeübt, sondern mittelbar auch gegen die ganze Gesellschaft. Jeder dieser Messerstiche spaltet auch das Gemeinwesen, weil Antworten à la „Ausländer raus“ und „bedauerlicher Einzelfall“ so einfach scheinen. Sie sind es aber nicht.