Im Frühjahr 1946 berichtete der Münsterpfarrer Kuenzer dem Freiburger Erzbischof Gröber über diesen Tag: „So kam der Donnerstag, der 26. April [1945] heran, ein Regentag. Schon früh hörte man Schüsse aus der Ferne, die auf Kampfhandlungen schliessen liessen. Dabei wurde im Wald von Hegne ein an der Spitze der französischen Truppen vorrückender Brigadegeneral in seinem Auto von SS-Leuten erschossen.“

Weiter heißt es: „In der Stadt Konstanz machte sich die ‚verlorene Schlacht‘ auf den Strassen bemerkbar durch über die Brücke und die Strassen einziehende, rückflutende Truppen der SS-Formationen. Sie machten einen desparaten Eindruck und schleppten ihre Sachen wie Tornister, Maschinengewehre, Karabiner nur widerwillig durch die Strassen dem Hafen zu, wo Schiffe der Bodenseeschiffahrt auf sie warteten, um sie über den See nach Bregenz zu bringen. Diese fuhren um 1 Uhr ab.“

Über den Moment, in dem die Truppen Konstanz erreichen, berichtet der Münsterpfarrer: „Und um ½ 3 rückte der Feind ein, begrüsst vom Jubel der Bevölkerung. Die Franzosen antworteten darauf durch Herauswerfen von Zigaretten, Packungen von Schokolade und Zuckersachen, die natürlich jeder haben wollte.“
Konstanz wird kampflos an die Franzosen übergeben
Tatsächlich löste sich an jenem Nachmittag im Frühling 1945 eine enorme Anspannung in der Konstanzer Bevölkerung blitzartig auf. Die Bilanz der kampflosen Besetzung durch die Kampfgruppe Lebel, einem mit amerikanischem Material ausgestatteten motorisierten Verband der Ersten Französischen Armee, war positiv.

Es fanden keinerlei Kampfhandlungen im Stadtgebiet statt. Ein flüchtender Zivilist wurde versehentlich von einem übernervösen französischen Maschinengewehrschützen erschossen. Der Übertritt der Reste der deutschen Garnison unter Hauptmann Schlotterbeck in schweizerische Internierung glückte, die bereits vorbereitete Sprengung der Rheinbrücke unterblieb.
Es erfolgte somit eine kampflose Übergabe der Stadt an die Besatzungsmacht. In Konstanz blieb alles friedlich, im Gegensatz etwa zu Freudenstadt, dessen Besetzung in einer Blut- und Gewaltorgie endete. Vergewaltigungen seien nur sehr vereinzelt vorgekommen, wie Dekan Kuenzer in seinem Bericht trocken bemerkte: „Das haben die Truppen auch nicht notwendig, denn die Konstanzer Weiblichkeit bot sich selber an.“
Bürgermeister und Stadtrat verhindern Bombardierung
Im Rathaus übergaben Bürgermeister Leopold Mager (NSDAP) zusammen mit Stadtrechtsrat Franz Knapp (vormals Zentrum) die Stadt offiziell an die Franzosen. Mager beließ man vorerst im Amt, obwohl er „alter Kämpfer“ der Partei war.

Unter Lebensgefahr hatten beide in der Nacht zum 25. April zusammen mit Polizeichef Petersen in Geheimverhandlungen mit Schweizer und französischen Offizieren im Gasthaus „Trompeterschlössli“ jenseits des Grenzzauns versucht, die Stadt vor Bombardements und Zerstörungen zu schützen.
Ein zeitgleich in der Altstadt agierendes Rollkommando unter SS-Sturmbannführer Hans Wadel, der einen Tag zuvor für die Ermordung des Singener Bürgermeisters Bäder verantwortlich zeichnete, konnte sie nicht ergreifen.
Stadt Konstanz bleibt intakt
Die beiden Rathausspitzen Mager und Knapp, deren Nachnamen zugleich als volkstümliches Wortspiel für die Situation in der Stadt seit 1939 dienten („Wie ist die Lage in Konstanz?“– „mager und knapp!“), lieferten unmittelbar nach der Besetzung dem provisorischen Stadtkommandanten Fakten.
Hauptmann Barbier verdichtete diese Angaben zu einem ersten Lagebericht, in dem er die Unzerstörtheit der Stadt und die Funktionsfähigkeit der Verwaltung hervorhob. Maßnahmen zur Ernährungssicherung seien zu ergreifen. Stadt und Region werden sich zu einem Durchgangsort für heimkehrende Kriegsgefangene und deportierte Zwangsarbeiter entwickeln.
Bodenseeinseln werden zur Erholung genutzt
Tatsächlich trafen kaum drei Wochen später befreite französische KZ-Häftlinge aus Dachau ein, die zwecks Quarantäne und Erholung auf den Inseln Mainau und Reichenau untergebracht wurden.
Die französische Militärverwaltung ergriff sofort erste Maßnahmen: Die Grenzschließung zur Schweiz blieb bestehen und wurde rigoroser denn je gehandhabt. Die NS-Tageszeitung „Bodensee-Rundschau“ wurde verboten (der neu gegründete SÜDKURIER konnte erst ab September 1945 erscheinen).

Waffen aller Art müssen abgegeben werden
Die Bevölkerung wurde über Plakate und Lautsprecherwagen informiert, dass Waffen aller Art sowie Foto- und Radioapparate abzugeben seien. Jeglicher Fahrzeugverkehr einschließlich des Radfahrens wurde verboten, Telefonate waren nur noch innerhalb des Stadtgebiets erlaubt und eine Sperrstunde wurde von 19 bis 7 Uhr verhängt.
Drakonische Strafen wurden angedroht: Jede feindselige Handlung gegen die Besatzungsmacht ziehe Todesstrafe, Geiselerschießungen und Niederbrennen von Stadtteilen, aus denen auf Besatzungssoldaten geschossen werde, nach sich.
Die „düstere Franzosenzeit“ beginnt
Gab es in Konstanz daher eine „Stunde Null“? Nein, denn die durchlaufenden Entwicklungslinien überwogen. Die komplette Bausubstanz und die Verkehrswege einschließlich der Schienen und der Rheinbrücke waren nicht zerstört, die Sozialstruktur ebenfalls. Selbiges gilt für die Kirchen, die Verwaltungen und die Schulen.
Abseits des Kulissen- und Personenwechsels vom „Dritten Reich“ zur Besatzungsherrschaft blieb das soziale Fundament der Stadt weitgehend intakt. Schuld- und Schamgefühle lenkten freilich alle Blicke nach vorne und nur sehr wenige Zeitgenossen fanden die Kraft, kritisch zurückzublicken. Zugleich brannte sich die von Ernährungs- und Versorgungsmangel geprägte „düstere Franzosenzeit“ in das kollektive Gedächtnis ein – bis heute.
Dieser Artikel erschien erstmals im Frühjahr 2020. Aufgrund des Jahrestages zum Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich die Redaktion entschlossen, den Bericht erneut zu veröffentlichen.