Es war das perfekte Familienidyll im Deutschland der 1940er Jahre: Ernst, ein knapp 30 Jahre alter Amtsvormund beim Konstanzer Jugendamt, der mit seinen abstehenden Ohren und dem jungenhaften Gesicht etwas Verschmitztes an sich hat. Und Annie, zwei Jahre jünger, eine Hausfrau mit praktischer Steckfrisur und sorglosem Lachen auf den Schwarz-Weiß-Fotos.

Bild 1: Liebesbriefe von Konstanz an die Front: „Und wenn es das Schicksal uns gestattet, dann sehen wir uns vielleicht doch einmal gesund wieder“
Bild: Familie Rosch | Wolfgang Hellmich

Sie wohnten mit ihren zwei Kinder Helga und Jörg in der Wollmatinger Straße, führten ein einfaches, aber glückliches Leben. Bis Ernst Rosch eingezogen wurde. Er sollte kämpfen als Soldat.

Seine erste Station war das Tschechische Hodonin. Damals lebte dort eine deutsche Minderheit, nach 1945 wurde sie vertrieben und enteignet. Am 14. Mai 1940 verließ er seine Familie in Konstanz. Wann und ob er wiederkäme, war ungewiss.

Das könnte Sie auch interessieren

Das Paar versprach sich, jeden Tag zu schreiben.

„Ich kann es noch gar nicht fassen, daß Du nicht mehr hier bei uns bist“, so beginnt Annie Rosch ihren ersten Brief. Ernst ist seit einem Tag fort.

Die Kinder weinten und hätten vorm Abendessen ein Foto auf „Vaterles“ Platz am Tisch gestellt. „Wir lassen deinen Platz immer frei, bis du wieder bei uns bist“, verspricht die Ehefrau.

Bild 2: Liebesbriefe von Konstanz an die Front: „Und wenn es das Schicksal uns gestattet, dann sehen wir uns vielleicht doch einmal gesund wieder“
Bild: Familie Rosch | Wolfgang Hellmich

Am Ende entschuldigt sich Annie: „Sei bitte nicht böse, lieber, lieber Ernst, daß wir so traurig sind nach dir, aber wir haben Dich alle auch so sehr lieb. Dran bist Du schuld, weil du immer so gut zu uns warst.“

Es war der erste von 1500 Briefen, die sich Ernst und Annie Rosch in den Kriegsjahren 1940 bis 1945 zwischen Konstanz und verschiedenen Einsatzorten hin- und hergeschickt haben. Sie alle sind im Original erhalten, teilweise handschriftlich, teilweise mit der Maschine getippt, teilweise in altdeutsch, in Sütterlin oder Steno.

Bild 3: Liebesbriefe von Konstanz an die Front: „Und wenn es das Schicksal uns gestattet, dann sehen wir uns vielleicht doch einmal gesund wieder“
Bild: Eva Marie Stegmann

Nun stehen sie, abgeheftet in sechs rote Ordner, im Konstanzer Stadtarchiv. Gebracht hat sie Wolfgang Hellmich. Er ist der Sohn von Helga Rosch, die Kleine, die damals so oft nach ihrem „Vaterle“ weinte.

„Jetzt sind die Briefe zurück in ihrer Heimat“, sagte Hellmich bei der Übergabe zu einem sichtlich erfreuten Stadtarchivar Jürgen Klöckler. Laut Klöckler gebe es „ein solches gut erhaltenes Konvolut“ an Briefen bisher nicht im Stadtarchiv. Der Grund: Verwandte interessierten sich häufig kaum für Kriegsbriefe, die meisten seien wohl im Mülleimer gelandet.

Bild 4: Liebesbriefe von Konstanz an die Front: „Und wenn es das Schicksal uns gestattet, dann sehen wir uns vielleicht doch einmal gesund wieder“
Bild: Eva Marie Stegmann

Die Hunderttausende an maschinengetippten oder handschriftlichen Zeilen zeugen vom Leben eines Rekruten zwischen zwölfstündigen Märschen, Sinfoniekonzerten, Festessen und Brotknappheit, vom Leben der Konstanzer Bevölkerung in Unsicherheit – und von einer großen Liebe.

Ernst „verordnet“ Rotwein für sein allerliebstes Mädel

Beide versuchen, so gut es geht am Leben des Anderen teilzuhaben. Ernst etwa bringt sich in die Erziehung ein und „verordnet“ Rotwein aus der Ferne für sein „allerliebstes Mädel“, wie er Annie häufig nennt.

Er schreibt: „Was machen die Kinder und ist auch Jörg immer brav, oder muß ich ihn zur Ordnung rufen. Wenn irgendetwas in dieser Beziehung vorliegt, dann laß mich das bitte wissen. Du, meine liebe Frau, sei jetzt herzlich gegrüßt und geküßt von Deinem Rekruten. Übernimm Dich nicht bei der Arbeit und trinke den befohlenen Rotwein.“

Bild 5: Liebesbriefe von Konstanz an die Front: „Und wenn es das Schicksal uns gestattet, dann sehen wir uns vielleicht doch einmal gesund wieder“
Bild: Familie Rosch | Wolfgang Hellmich

Bei der Übergabe der Briefe nennt Enkel Hellmich sie ein Zeitzeugnis der „kleinen Leute“. Er sagt: „Man hat vielen unterstellt, sie wären Nazis gewesen, dabei haben die meisten vielleicht einfach nur versucht, zu überleben und haben vielleicht gelächelt, auch, wenn es innerlich anders aussah.“

Was dachten die „kleinen Leute“ über Krieg und Nazis?

In der Korrespondenz fehlt es an Wehrmachts-Pathos. Kein „Heil Hitler“, kein Bekenntnis zu Deutschland, keine Rede von Stolz und Vaterland. Ernst nimmt sein Schicksal hin, nur manchmal äußert er sich kritisch, zum Beispiel Ende des Jahres 1942.

Das könnte Sie auch interessieren

„Ab heute früh bin ich den Unteroffizieren zugeteilt. Dort ist es aber so fein eingerichtet, daß wir als Menschen dritter Sorte angesehen werden, weil dort noch Kameraden von der Feldpost essen, die mit den Unteroffizieren nicht zusammensitzen sollen und darum erst nach Abfertigung dieser abgefüttert werden. Es ist direkt eine Freude, wenn man sieht, was für eine Eintracht innerhalb der Wehrmacht herrscht.“

Oder am 4. April 1945: „Wie sich die militärische Lage in dem hiesigen Raum weiter entwickelt, wird sich bald herausstellen. Was man mit uns plant, ist ja keinem von uns bekannt. Man hat keinen Einfluß auf diese Dinge, denn wir sind ja doch nur Werkzeug. Also machen wir in bewährter Weise weiter mit.“

Bild 6: Liebesbriefe von Konstanz an die Front: „Und wenn es das Schicksal uns gestattet, dann sehen wir uns vielleicht doch einmal gesund wieder“
Bild: Familie Rosch | Wolfgang Hellmich

Die meiste Zeit schreibt das Konstanzer Paar über seinen Alltag: Wenn Annie im Garten Tomatensetzlinge steckt oder für die Kinder Holzschuhe kauft, ist das Thema. Ernst wiederum berichtet, wie das Essen geschmeckt hat, die Spätzle in der Offizierskantine waren gut.

Je näher der Krieg sich seinem Ende neigte, desto rarer wurden die Gelegenheiten, an denen Ernst Rosch wirklich satt wurde. Einfach nur überleben, irgendwie weitermachen und hoffen, dass sie sich wiedersehen – das war für die beiden der Fokus – nicht die große Politik.

Bild 7: Liebesbriefe von Konstanz an die Front: „Und wenn es das Schicksal uns gestattet, dann sehen wir uns vielleicht doch einmal gesund wieder“
Bild: Eva Marie Stegmann

Gewaltmärsche und Schuhe putzen beim Offizier, Angst, ohne richtige Ausrüstung Leipzig verteidigen zu müssen – egal was Ernst erlebt, er denkt immer und zuerst an Annie. Sogar in seinem allerletzten Brief. Es geht ihm nicht gut, er ist verzweifelt an diesem 30. April 1945.

„Wenn man diese schönen Frühlingstage draußen sieht und dann all dieses Geschehen betrachtet, dann könnte man fast verzweifeln. Was hat man sich früher an solchen Dingen aufrichten können. Heute hinterläßt das wenig Eindruck. Ob man sich daran später wieder einmal unbeschwert erfreuen kann?“, sinniert er. „Es wäre mir ein Trost, wenn ich die Möglichkeit hätte, Euch in dieser Zeit eine Stütze sein zu können, aber leider sind wir so weit von einander entfernt.“

Bild 8: Liebesbriefe von Konstanz an die Front: „Und wenn es das Schicksal uns gestattet, dann sehen wir uns vielleicht doch einmal gesund wieder“
Bild: Familie Rosch | Wolfgang Hellmich

Diese letzten Zeilen kommen von einem Mann, der nicht weiß, ob er seine Familie je wiedersehen wird: „Hoffentlich übersteht Ihr alles gut, und wenn es das Schicksal uns gestattet, dann sehen wir uns vielleicht doch einmal gesund wieder. Vorerst ist alles noch recht dunkel. Wenn wir auch innerlich zerbrochen scheinen, so wollen wir nach außen hin den Kopf hochhalten, denn warum sollen wir unser Unglück anderen zur Schau tragen. In aufrichtiger Liebe zu Euch allen bin und bleibe ich stets Euer Vaterle und Dein Ernst.“

Das könnte Sie auch interessieren

Als die Alliierten übernahmen, wurde Ernst Rosch gefangen genommen – nachdem er sich selbst gestellt hatte.

Hier endet der Briefverkehr.

Tage vergehen, Wochen, Monate. Eines Tages läuft ein Mann die Wollmatinger Straße entlang. An der Nummer 83 bleibt er stehen und klingelt. Annie Rosch öffnet.

Es ist ihr Mann.

Noch bis zu Annies Tod in den 1990er Jahren lebten Annie und Ernst Rosch in Konstanz. Sie sind auf dem Friedhof in Wollmatingen begraben.

Bild 9: Liebesbriefe von Konstanz an die Front: „Und wenn es das Schicksal uns gestattet, dann sehen wir uns vielleicht doch einmal gesund wieder“
Bild: Familie Rosch | Wolfgang Hellmich