Es reicht. Der Leidensdruck von Daniela Vetter und Tobias Allmayer ist so groß, dass sie sich an die Öffentlichkeit wenden. Und nicht nur das. Sie sehen sich als Sprecher für viele ihrer Arbeitskollegen, die ähnlichen Situationen ausgesetzt sind oder zumindest jederzeit damit rechnen müssen. Unterstützt werden sie von ihrem Arbeitgeber: Für Sabine Seibl, Geschäftsführerin der Edeka-Baur-Gruppe, sowie für ihren Bruder und Unternehmensleiter Jürgen Norbert Baur sind die Grenzen der Belastbarkeit erreicht.

Zwei Fallbeispiele

Fall eins: An einer der Kassen im Konstanzer Edeka-Center in der Reichenaustraße sitzt am 30. Oktober ein Student, der einen Kunden auf die Verpflichtung zum Tragen einer Maske hinweist. Seiner Bitte um Einhaltung des Gebots kommt der Kunde nicht nach, worauf ihn der Student zu verdeutlichen versucht, dass er ihn dann nicht bedienen könne. Es kommt zum Streit, woraufhin der Kassierer Kollegen um Hilfe bittet – das erscheint nicht zuletzt deshalb nötig, weil die Aggressivität des Kunden wegen seiner Größe und stabilen körperlichen Verfassung beängstigend wirkt.

Es dauert nicht lang als auch Tobias Allmayer am Ort der Auseinandersetzung eintrifft. Er versucht die Aufmerksamkeit vom Kassierer auf sich zu lenken und bemüht sich verbal um die Deeskalation der Situation. Doch das misslingt, der Kunde zertrümmert die Plexiglasscheibe und umrundet den Kassenbereich, um zum verängstigten Kassierer zu gelangen. Tobias Allmayer versucht ihn daran zu hindern, bekommt „eine gelangt“ – ebenso wie ein Kollege, der nach Angaben des stellvertretenden Marktleiters „so seine 110 Kilo auf die Waage bringen dürfte und sehr kräftig ist“. Als Tobias Allmayer zwecks eines Hilferufs bei der Polizei zum Handy greift, wird es ihm von dem Kunden aus der Hand geschlagen.

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Der Vorgang ist in weiten Teilen per Video dokumentiert – bis hin zum Eintreffen der Polizei, die den Mann abführt. Tobias Allmayer hat Anzeige gegen ihn erstattet, der Student hingegen konnte sich nicht dazu entschließen. Während und nach der Auseinandersetzung hat er stark gezittert, so die Schilderung des stellvertretenden Marktleiters, die Angst stecke ihm bis heute in den Knochen. Unabhängig vom Ausgang des juristischen Streits hat das Unternehmen gegen den Kunden ein lebenslanges Hausverbot erteilt. Formal ist damit eine weitere Begegnung während der Betriebszeiten des Markts ausgeschlossen, die Angst aber kennt perfide Schleichwege.

Fall zwei: Der 4. Dezember ist ein Samstag, Daniela Vetter ist in der Niederlassung von Edeka-Baur in der Gottlieber Straße der Spätschicht zugeteilt. Am Knorr-Regal sieht die 50-Jährige einen Mann, der keine Maske trägt. Sie geht auf ihn zu, bittet ihn um die Einhaltung der Bestimmungen zum Infektionsschutz. Der Mann, von Gestalt laut Daniela Vetter groß und stabil, lehnt das ab und verweist auf ein angebliches Attest, das ihn vom Tragen einer Maske befreit. Die Vorlage verweigert er, stattdessen meint er süffisant, dass die Mitarbeiterin gerne die Polizei rufen könne. Daniela Vetter wendet sich daraufhin an einen Kollegen, der ihr in der schwierigen Situation beisteht – was wiederum den Kunden zum Rückzug bewegt. „Ich geh‘ jetzt“, sagt er, versieht die Bemerkung mit einem „Hatschi“ und spuckt der Mitarbeiterin des Supermarkts dabei voll ins Gesicht. Er befand sich übrigens in Begleitung einer Frau, die eine Maske trug und sich während der Auseinandersetzung nicht äußerte.

Daniela Vetter hat Anzeige erstattet, wegen Körperverletzung und Beleidigung. Unabhängig davon bleibt ein belastendes Gefühl. „Man fühlt sich verletzt und dreckig“, sagt sie, zumal sie nicht das erste Mal solcherweise angegangen wurde. Die Verständnislosigkeit über das Verhalten paart sich dabei mit der Sorge einer möglichen Infektion. Hinzu kommt die Angst in einem Beruf, bei dem der Anteil der Frauen vergleichsweise groß ist. Daniela Vetter ist froh, dass in ihrer Filiale ein „paar starke Jungs“ arbeiten, die ihr und ihren Kolleginnen im Zweifelsfall zur Seite stehen können. Nach Unternehmensangaben wird inzwischen bei der Ausarbeitung der Dienstpläne bewusst auf die Präsenz männlicher Kollegen geachtet.

Es ist eine der Sicherheitsvorkehrungen bei der Unternehmensgruppe Edeka-Baur, zu denen die Unternehmensleitung aus nahe liegenden Gründen nicht ins Detail gehen möchte. Erforderlich sind sie nicht nur wegen des Sicherheitsgefühls, es geht um handfeste Kriminalprävention. Denn die Streitigkeiten sind vielfach nicht zufälliger oder situativer Natur. „Immer regelmäßiger beobachten wir Kundinnen und Kunden, die durch eine bewusste Sabotage der Corona-Vorschriften Konflikte provozieren“, schreibt Dennis Fritzsche, der bei Edeka Baur für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Die Aggressivität der Provokationen nehme dabei spürbar zu, auch vor Gewalt werde nicht mehr zurückgeschreckt.

Jürgen Norbert Baur, Leiter der Unternehmensgruppe Edeka Baur: „Das kann nicht drei bis vier Jahre so weitergehen. Ich sehe doch, ...
Jürgen Norbert Baur, Leiter der Unternehmensgruppe Edeka Baur: „Das kann nicht drei bis vier Jahre so weitergehen. Ich sehe doch, was das mit meinen Leuten macht. | Bild: Ulrike Sommer

Im Ansatz freilich gibt es diese Aggressivität schon länger. Während der Phase von Eingangskontrollen vor etwa einem Jahr kam es laut Sabine Seibl von Kunden zu Aussagen wie „Ich schlag‘ dich tot!“. Noch präsent sind ihr und den Mitarbeitern auch Schlägereien im Zusammenhang mit Hamsterkäufen. „Corona ist so etwas wie ein Brandbeschleuniger“, ist die Geschäftsführerin überzeugt. Sie meint damit, dass in der Krise die schlechten und guten Tendenzen in der Gesellschaft zutage treten.

Viel Verständnis – aber die Ausreißer werden extremer

Gute Entwicklungen gibt es nach Ansicht der Mitarbeiter und der Geschäftsleitung durchaus. „Wir haben im Edeka-Center in der Reichenaustraße rund 25.000 Kundenkontakte pro Woche“, sagt Tobias Allmayer, „und insgesamt halten sich die Leute sehr viel mehr an die Vorgaben als früher, sie zeigen Verständnis für die Vorsichtsmaßnahmen.“ Die Ausreißer allerdings würden extremer. „Wir beobachten“, so fasst Dennis Fritzsche die Lage zusammen, „wie die anfänglich betonte Dankbarkeit für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Einzelhandels immer mehr dem Selbstverständnis weicht, diese als Ziel der eigenen Aggressionen zu nutzen.“