Wirklich verändert hat sich nichts. Der Beziehungsmarkt blüht, nur war früher die Theke (“Du auch hier?“) der Browser. Gut, auf den virtuellen Portalen sollte man sich heute etwas einfallen lassen, das nicht unbedingt so schmerzt wie „Bin gut drauf und suche jemanden, der gut drunter ist“.
Wie immer man‘s aber dreht und wendet, die Marktbedingungen sind dieselben. Sie decken ein Spektrum zwischen echter Sehnsucht und peinlicher Verrenkung ab, was seine Entsprechung beim Sex findet. Wer‘s genauer wissen möchte, vertiefe sich in die einschlägig bebilderte Literatur übers Kamasutra.
Die Liebe zwischen Lust und Lächerlichkeit war exakt auch das Metier von Harald Borges, der als „Der Setzer“ (D.S.) die Bekanntschaftsanzeigen in den bis in die 2000er-Jahre aufgelegten „Kultur-Blättern“ mit bissig-witzigen Kommentaren versah.
Er und Achim Eickhoff, der Harald Borges gelegentlich vertrat, gehörten zu den Autoren und Mitarbeitern der Hefte, und sie revitalisieren den intellektuellen Anekdoten-Schatz am Dienstag, 18. Oktober, gemeinsam mit der Intendantin der Südwestphilharmonie, Insa Pijanka.
Blüten des Beziehungsmarktes
Das Trio hat bei der Vorbereitung der Lesung vor allem die Qual der Wahl. Die Zahl der Bekanntschaftsanzeigen schätzen Harald Borges und Achim Eickhoff auf rund 1000 pro Jahr, summiert gehen sie von 5000 bis 6000 Annoncen aus.
Natürlich wurde nicht jede von ihnen kommentiert, gleichwohl erlebte das Genre eine beachtliche Blüte. Beleg dafür ist ein 1998 erschienenes Buch in Form einer 153-seitigen Best-of-Zusammenfassung von kommentierten Anzeigen aus den Jahren 1990 bis 1995.

Für Achim Eickhoff ist damit der einstige D.S.-Kult ein Teil der Stadtgeschichte, der wiederum als Zeitphänomen einen gesellschaftlichen Umbruch markiert. „Ihre Haut zu Markte getragen haben die Menschen von jeher“, sagt der früher Kultur-Blätter-Autor, aber die Lockerheit bei der Suche nach dem richtigen Deckel für den passenden Topf ist historisch gesehen eine noch junge Kulturtechnik.
So überlebte der ursprünglich aus dem Mittelalter stammende Kuppelparagraf, bei dem die Strafe von einem Tag bis zu fünf Jahren reichte und im Zweifel der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte drohte, bis ins Jahr 1973.
Zwischen Spaß und Übelkeit
Harald Borges alias D.S. indessen weiß auch einiges von den Schattenseiten dieser Lockerheit zu berichten. Mal abgesehen von der unfreiwilligen Komik mancher Bekanntschaftsanzeigen und dem Spaß an deren Kommentierung, war ihm der von ihm begründete Kult längst nicht nur ein Vergnügen.
Die erkennbaren Verlogenheiten, das falsche Spiel samt Betrugsabsichten und gelegentlichen Abdriften ins Pornografische hat bei ihm gelegentlich zum hinlänglich bekannten Effekt der Übersättigung beim Naschen geführt. „Das ist wie bei einer großen Schachtel Pralinen, nach der Hälfte wird‘s einem schlecht.“
Beispiele gefällig?
- Anzeigentext: „In strenge Hände abzugeben: Lausbub, 38/177, sucht Hobby-Pädagogin für phantasievolle Erziehungsstunden. Niveau, Diskretion und Antwort sind garantiert.“
Der Kommentar von D.S.: „Hört sich an wie eine Fliege, die sich nach der Fliegenklatsche und einer ordentlichen Dosis Paral sehnt.“ - Anzeigentext: „Waagemann, 42 Jahre, klein, mit Bauch, Halbglatze, Brille, Bart, Raucher, würde sich wundern, wenn doch eine Zuschrift käme.“
Der Kommentar von D.S.: „Anzeige hört sich nicht so an, als könntest Du Dich überhaupt noch über irgendetwas wundern, außer darüber, dass Dein Nachbar Dich noch nicht als Handtuchhalter neben seinem Waschbecken angeschmiedet hat.“ - Anzeigentext: „Kind auf dem Rücken tragen. Wie am besten? Darüber haben wir uns am 8. Mai kurz unterhalten. Sollten wir uns nicht zufällig treffen, lass‘ mich wissen, wo ich Dich finde.“
Der Kommentar von D.S.: „Wie am besten? Ganz einfach, festgedübelt an der Wirbelsäule. Die Windel aber vorher mit Schnellkleber befestigen, sonst gibt‘s Probleme.“ - Anzeigentext: „Wo? ist die böhmische Hausköchin Magdalena Dobromila Rettigora für den deutschen Gourmet und Multimilli? Schön musst Du sein und jung, böhmische Knödel musst Du können und haben, vorn und oben, unten und hinten, alles andere wird sich finden.“
Der Kommentar von D.S.: „Zieht das Ochsenfleisch viel Saft, / verlier‘n Gourmets an Manneskraft.“
Derweil geht Insa Pijanka als Dritte im Bunde der Lesung völlig befreit von jedwedem intellektuellen Überbau in die Veranstaltung. „Ich lese, was man mir vorlegt“, sagt sie, und überhaupt spielt es für sie eine untergeordnete Rolle, wie und wo man sich findet.
Warum also nicht über eine Annonce oder ein Internet-Portal? Genauso gut bleiben die Theke, das Treffen versprengter Raucher vor den Restaurants und die sich wegen der Zugverspätungen füllenden Wartezonen in den Bahnhöfen. Wer da nicht fündig wird, kann sein Glück immer noch im K9 suchen. Zum Beispiel am 18. Oktober.