Derzeit scheint es in Konstanz nichts Wichtigeres zu geben als die Oberbürgermeisterwahl am Sonntag. Das zumindest legen zahlreiche Beiträge lokaler und regionaler Medien sowie unzählige Veranstaltungen nahe. Doch blickt man auf die Zahlen zur Wahlbeteiligung der vergangenen OB-Wahlen, ist das Rennen um den Chefposten im Rathaus wohl vielen Konstanzern schlicht egal: Seit Ende der 1980er-Jahre lag sie nie über 51 Prozent, 2012 beteiligten sich 42 Prozent der Konstanzer an der OB-Wahl und 44,5 Prozent am zweiten Wahlgang.
Woher kommt dieses Desinteresse? Wieso gibt es in der Konzilstadt so viele Nicht-Wähler? Menschen zu finden, die mit ihrem Namen hinstehen und erklären, warum sie nicht wählen gehen, ist alles andere als einfach. Der SÜDKURIER begibt sich deshalb auf Spurensuche in jenen Konstanzer Wahlbezirk, der nicht nur bei der letzten OB-Wahl, sondern auch bei Kommunal- und Landtagswahlen stets die niedrigste Wahlbeteiligung aufwies: Im Wahlbezirk „Familienzentrum Stockacker„, der ziemlich genau das Quartier Pfeiferhölzle am westlichen Ende des Stadtteils Königsbau abdeckt.
„Am Ende erreicht man sowieso nix“
Der Rundgang beginnt bei der Endhaltestelle der Buslinie 14. Im Rücken erstreckt sich der dichte Uni-Wald, rechter Hand sind hinter Baugerüsten die drei neuen Wobak-Wohngebäude zu sehen. Etwas weiter die Straße hinunter tauchen links farbige Wohnblocks auf, inmitten von viel Grün.
Auf einem der Balkone steht Thomas Fischer. Nein, wählen werde er nicht, sagt der 59-jährige Lastwagenfahrer: „Egal, für wen ich den Zettel abgebe, am Ende erreicht man sowieso nix.“ Von Politikern ist der gebürtige Leipziger enttäuscht. „Was sie versprechen, halten sie sowieso nicht. Da werden nur Gelder sinnlos zum Fenster rausgeschmissen. Ob grün, schwarz, rot oder braun: Es ändert sich eh nichts.“ Und Fischer hat auch ein Beispiel, wo es seiner Ansicht nach hakt: „Es werden die ganze Zeit Wohnungen gebaut, aber die Asylanten sind noch immer in Wohncontainern untergebracht. Für sie gibt es nix.“
Wenige Meter von Fischers Balkon entfernt befindet sich die Haltestelle „Pfeiferhölzle“. Hier wartet Karin Sonne mit einer Nachbarin auf den Bus. Auch sie winkt ab bei der Frage nach der OB-Wahl ab: „Ich habe den Brief gleich weggeschmissen.“ Früher sei sie noch wählen gegangen. „Aber die machen eh, was sie wollen. Wie bei diesen drei hässlichen Dingern“, sagt die Rentnerin und zeigt auf die neuen Wobak-Blöcke. „Wenn die Leute dort erst einziehen, ist es mit unserer schönen Ruhe hier vorbei. Aber man hört ja gar nicht auf uns.“
Doch nicht nur deshalb ist sie von Politikern im Lokalen wie im Allgemeinen enttäuscht: „Seit ich 17 war, habe ich gearbeitet, als Bedienung und in der Reinigung. Und jetzt muss ich aufs Amt gehen, weil meine Rente nicht reicht. Und man sieht ja auch hier alte Leute, die in Mülleimern wühlen“, sagt Sonne, die erst seit vier Jahren im Quartier wohnt. „Ich hätte früher nie gedacht, dass ich hier mal lebe, weil es viel Kriminalität gab. Aber das ist ja jetzt vorbei.“
Viele haben hier andere Sorgen als die nächste Wahl
Dass sich das Pfeiferhölzle stark verändert hat, bestätigt Elke Fuhrmann, Gesamtleiterin der Wessenbergschen Vermächtnisstiftung. Die Stiftung betreibt vor Ort das Familienzentrum Stockacker. 28 Jahre lang hat auch Fuhrmann hier gearbeitet. „Als ich in den 1980er-Jahren angefangen habe, gab es hier noch Holzbaracken“, erzählt sie. Das Quartier sei in den 1970er-Jahren für Konstanzer Verhältnisse auch tatsächlich noch eine Art Ghetto gewesen, mit einer hohen Kriminalitätsrate.
„Aber das Quartier ist schon lange kein sozialer Brennpunkt mehr. Nur hat sich dieser Mythos bis in die 2000er-Jahr und teilweise darüber hinaus gehalten.“ Inzwischen seien auch immer mehr Menschen aus der Mittelschicht hinzugezogen. Doch noch immer fühlten sich einige im Quartier abgehängt. Und es gebe hier auch viele mit einem Wohnungsberechtigungsschein. „Gerade Menschen, die trotz Arbeit schauen müssen, wie sie über die Runden kommen, haben andere Alltagsprobleme“, nennt Fuhrmann einen möglichen Grund für die Wahlmüdigkeit im Quartier.
Stimmt die Gleichung „Nichtwähler = sozial abgehängt“?
Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung im Nachgang zur Bundestagswahl 2017 ist die Wahlbeteiligung in sozial benachteiligten Milieus deutlich geringer als in Schichten, die wirtschaftlich besser gestellt sind. Einer, der zur Gruppe der „sozial Benachteiligten“ gehört, ist Helmut Burgwinkel. Er wohnt in einer Sozialwohnung am Mühlenweg 44a im Konstanzer Industriegebiet.
„Früher in Berlin habe ich noch gewählt, aber in Konstanz haben mich schon die letzten OB-Wahlen nicht interessiert“, sagt der 53-Jährige, der vor zwölf Jahren an den Bodensee gekommen ist. Seit einem Schlaganfall sitzt Burgwinkel im Rollstuhl. Von der Politik ist er enttäuscht. Ab und an kämen zwar Gemeinderäte vorbei. „Dann versprechen sie was, aber einhalten tun sie es nie. Mir wurde auch ein Zimmer im betreuten Wohnen versprochen, aber es geschieht nix.“
Doch mit Blick auf ganz Konstanz scheint klar: Mit der Analyse der Bertelsmann-Stifung zum Wahlverhalten sozialer Milieus allein lässt sich die niedrige Wahlbeteiligung nicht erklären. Deshalb nochmals ein Szenewechsel: Zurück im Pfeiferhölzle, bei der Bushaltestelle. Christina Rout ist in Eile: „Der 14er kommt gleich.“ Aber ein bisschen Zeit kann sich die 26-Jährige dann doch nehmen.
OB-Wahl? „Damit habe ich mich bisher nicht beschäftigt, ist an mir vorbeigegangen. Und im Endeffekt wählt man jemanden, der es dann nicht wird oder man kennt die Kandidaten nicht wirklich.“ Der Bus naht, deshalb nur noch eine kurze Ergänzungsfrage: Wie würde man Rout an die Urne bringen? „Na, wenn jemand die Busverbindungen hierher verbessern würde, täte ich ihn sofort wählen!“
Es geht weiter in den von Einfamilienhäusern gesäumten Stockackerweg. Auf einem Garagenvorplatz arbeitet Thomas Gasteier. Auf die OB-Wahl angesprochen, sagt der Kraftfahrzeug-Mechaniker: „In letzter Zeit habe ich das nicht mehr groß verfolgt, das kostet mich zu viele Nerven.“ Auch von seinen Bekannten gingen nur wenige wählen, ergänzt der 54-Jährige. Gasteiers Arbeitskollege Sami Kader kommt hinzu. Der 44-Jährige ist 2008 aus Syrien nach Deutschland gekommen. Ob er wählen geht? „Ja, ich will hingehen. Es ist meine erste Wahl in Deutschland und ich finde es ist wichtig, zu wählen.“