„Spontan und ohne Absprache!“ Das ist eine der häufigsten Formeln, die am zweiten Tag des Prozesses gegen die mutmaßlichen Herosé-Räuber zu hören ist. Aber auch: „Entschuldigung. Es tut mir leid.“
Die meisten der als Zeugen geladenen Opfer der Überfallserie am 5. August 2022 zeigen sich tatsächlich großmütig und verzeihen den Tätern. Die aus Syrien stammenden Jugendlichen hatten an jenem schönen Sommertag gleich fünfmal zugeschlagen – nach ihrer Darstellung jedesmal aus einer plötzlichen Laune heraus und nicht als organisierte und planvoll handelnde Bande. Und nur zwei von ihnen waren bei allen Taten dabei.
Beginn um 2 Uhr morgens: Das junge Paar von der Seerhein-Bank
Ein paar Tequila-Bierchen, Wodka-Energy, dazu die Lichter der Stadt und das in der Dunkelheit schimmernde Wasser der Seerheins – eigentlich war es ein perfekter Abend für den damals 19-jährigen Azubi und seine ein paar Monate jüngere Freundin, die tagsüber bei einem Bäcker arbeitet. Sie genossen in jener Nacht die gemeinsame Zeit, bis plötzlich fünf Radfahrer bei den Bänken im Herosé-Park auftauchten.

„Einer hat mich nach einer Zigarette gefragt, aber ich wollte ihm keine geben“, erzählt der junge Mann. Plötzlich habe ein anderer an seinem Rucksack herumzufummeln begonnen. Zunächst wollte er ihn davon abhalten, doch dann bemerkte er, dass einer aus der Gruppe ein Messer in der Hand hielt. „Da war der Puls direkt auf 180.“ Er händigte seinen Geldbeutel aus und forderte auch seine Freundin dazu auf.
Hinter ihm sagte jemand so etwas wie „Stech den doch einfach ab“ – und das zwei- oder dreimal. Seine Freundin brach in Tränen aus und zitterte, bis die Gruppe endlich wieder in die Dunkelheit verschwand. Mehr als ein wenig Kleingeld, eine Kreditkarte und eine EC-Karte, die sie später an einem Zigarettenautomaten benutzten, hatten die Täter nicht erbeutet.
Als sich der damals noch 16-jährige jüngste Angeklagte auf Arabisch direkt an den jungen Konstanzer wendet, um ihn um Verzeihung zu bitten, winkt der ab. „Jeder kommt ab und zu mal auf dumme Ideen, und das war vielleicht eine zu dumme Idee. Es ist okay.“
Auch dem Mandanten von Verteidiger Andreas Hennemann wird vergeben. Der zur Tatzeit 18-Jährige spricht die Zeugen an diesem Tag jeweils auf Deutsch an und bemüht sich jedesmal um eine individuelle Reuebekundung. Auch die junge Frau nimmt die beiden Entschuldigungen an, obwohl sie noch heute ungern im Dunkeln unterwegs ist.

4.50 Uhr, Eni-Tankstelle Reichenaustraße
Eine Flasche Whisky hatte er schon intus, als der Mann aus Mosbach am Neckar in dieser Nacht an der Tankstelle an der Reichenaustraße auf die Syrer traf. Man habe zunächst ein „normales Gespräch unter Arabern geführt – woher kommst du, was machst du“, erzählt der aus Algerien stammende Mann. Doch dann kam es zum Streit, die jungen Leute bedrohten ihn mit einem Messer und einem Notfallhammer, traten und schlugen ihn, nahmen ihm seine Umhängetasche ab, in der unter anderem 250 Euro, Kopfhörer und seine Aufenthaltsgestattung waren.

Sieben Monate später soll der Mosbacher zum schwierigsten Zeugen des Verfahrens avancieren. Denn er kann oder will sich nicht mehr an Details erinnern, verweist nur immer wieder auf das Protokoll seiner polizeilichen Vernehmung und das Video der Tankstellenüberwachung. „Das sind Diebe, eine Bande“, sagt er zu seinem zunehmend verzweifelter wirkenden Dolmetscher. Doch warum die Situation eskalierte, was er überhaupt in Konstanz wollte, welcher der Angreifer wann was getan hat, solche Fragen beantwortet er entweder gar nicht, vage oder bei jedem Versuch etwas anders.
Den Vorwurf, er habe Drogen an die Jungs verkaufen wollen, kontert er damit, dass er sich in Deutschland bis auf eine Strafe wegen Schwarzfahrens nichts zuschulden kommen lassen habe. Und die beiden Angeklagten, die sich persönlich bei ihm entschuldigen wollen, lässt der fahrig und ungeduldig wirkende Mann gar nicht erst ausreden, um nur endlich wieder aus dem Saal herauszukommen: „Ich habe allen verziehen, wir sind Brüder“, sagt er.
Keine halbe Stunde später, auf Höhe der L‘Osteria
Auf dem Rückweg von der Tankstelle, die Gruppe war immer noch mit dem Fahrrad unterwegs, fuhr ihnen zufällig ein 40-jähriger Mann ein Stück mit dem Rad hinterher. Auf Höhe des italienischen Restaurants L‘Osteria kam es dann zur Konfrontation.
Warum er ihnen folge, fragte einer der Angeklagten, die sich umgedreht und ihm zugewandt hatten. Fünf Minuten später saß der Mann am Boden. Mit einem leeren Geldbeutel neben sich sowie Verletzungen und Schmerzen am rechten Oberschenkel, an der rechten Schulter und im Gesicht, die ihn für eine Weile außer Gefecht setzen und für längere Zeit bei seiner Arbeit in einer Gaststätte behindern sollten.
Im Gerichtssaal spricht der Zeuge sehr überlegt und denkt genau nach, sagt auch, wenn er sich unsicher ist. Welcher Angeklagter was getan hat, das kann er aus eigener Erinnerung nur teilweise nachvollziehen. „Die Kleidung und die Frisuren sind heute völlig anders.“ Mindestens vier der fünf Angreifer hätten zugeschlagen, betont er. Und er lehnt die Entschuldigungsversuche als Einziger komplett ab: „Ich will davon nichts mehr hören“.
9.20 Uhr, nahe dem Kiosk in Petershausen
Das Opfer der vierten Tat, eine 84-jährige Frau, kann vor Gericht nicht aussagen. Oder sie will nicht. Jedenfalls ist sie trotz Ladung nicht zum zweiten Verhandlungstag erschienen. Laut Anklage sollen ihr die Mandanten der Verteidiger Vera Eberz und Andreas Hennemann und ein unbekannter Dritter am Vormittag des 5. August auf der Eisenbahnstraße nahe dem Kiosk an der Bahnschranke die Handtasche entrissen haben.

Die alte Dame geriet ins Taumeln, fiel rücklings und knallte mit dem Kopf auf die Straße. „Der Aufschlag war schrecklich laut“, erinnert sich ein älterer Zeuge, der das mit ansah, ohne recht zu begreifen, was da eigentlich vor sich ging. „Ich dachte, sie hat sich das Genick gebrochen.“ Fotos aus dem Krankenhaus zeigen sie mit dick verbundenem Kopf, sie hatte eine Platzwunde sowie eine Schädelprellung erlitten.
Kurz vor Mittag am Spielplatz Stadtgarten
Die fünfte Tat am 5. August ist die erste der Herosé-Räuber außerhalb ihres rechtsrheinischen Reviers – und sie soll ihnen zumindest im übertragenen Sinne tatsächlich das Genick brechen. Total übermüdet sei er den anderen hinterhergetrottet, trägt Verteidiger Hennemann für seinen Mandanten vor. Aber offenbar nicht müde genug, um die Handtasche neben der älteren Frau zu übersehen, die dort im Stadtgarten neben ihrem Mann an einem Tisch saß und dem Enkel beim Spielen zuschaute.
Was dann folgte, verfolgt das 72-jährige Opfer aus dem Landkreis Verden in Niedersachsen noch heute. So stark, dass sich die Frau außerstande sieht, selbst zum Prozess zu erscheinen – sie schickt ein ärztliches Attest.
Der 18-Jährige entriss ihr die Tasche mit 480 Euro in Bar, EC-Karte (auch damit holten sie später Zigaretten am Automaten), einem Mobiltelefon, ihrem Impfausweis und einem Zettel mit all ihren Erkrankungen, stopfte sie sich unters weiße T-Shirt und spurtete los. Seine zwei Kumpane, darunter auch wieder der Jüngste der Angeklagten, folgten ihm. Nach wenigen Metern wurde er zunächst von einem Zeugen aufgehalten und ließ kurz die Beute fallen.
Doch einer der Mittäter rannte den 50-jährigen Fluchtverhinderer um. Der Mediengestalter aus Bonndorf, der im Moment seines Eingreifens gar nicht so richtig wusste, was eigentlich los war, hat nach eigenen Angaben nur sehr bruchstückhafte Erinnerungen an das Geschehen. Aber er bekam eine lange schmerzende Erinnerung daran verpasst – einen Bruch des Handwurzelknochens samt Handgelenksverstauchung und Bänderriss in diesem Bereich.
Ihr Mandant habe ihn nicht umgestoßen, betont Anwältin Eberz, aber er wolle sich entschuldigen. Der Mann hört sich an, was der 17-Jährige und sein Dolmetscher auf Arabisch zu sagen haben – und blickt dann auch dem 19-Jährigen, den er fast aufgehalten hätte, ins Gesicht. „Ich hoffe, Ihre Verletzung ist wieder besser geworden und Sie können mit der Hand wieder gut arbeiten“, sagt der Angeklagte auf Deutsch. Und: „Wir bereuen das.“
13 Uhr, die Festnahme an einem der Tatorte
Die Reue kommt nicht überraschend, denn kurz danach war es vorbei für die Herosé-Räuber. Zwei Zeugen des Vorfalls im Stadtgarten sahen sie an der Bushaltestelle stehen und meldeten das der Polizei. Gegen 13 Uhr wurden die beiden Haupttäter, die zusammen mit einem weiteren Beschuldigten in einem Mercedes unterwegs waren, an der Eni-Tankstelle gestoppt. Eine Streife hatte sie erkannt, als sich die Wagen auf der Straße begegneten. Die Zeit der Bande, die keine Bande sein will, war abgelaufen.