Er versucht sich zu erinnern. Aber so richtig gelingt es ihm nicht. Angestrengt sucht er nach Worten, beschwört Bilder jenes schicksalhaften Morgens im Juli 2024 herauf. Der Morgen, an dem der 38-Jährige an der Eni-Tankstelle an der Reichenaustraße um 5.23 Uhr angeschossen wird.

(Archivbild von Juli 2024) Kurz nach den Schüssen im vergangenen Juli sperren die Kriminalbeamten die Eni-Tankstelle an der ...
(Archivbild von Juli 2024) Kurz nach den Schüssen im vergangenen Juli sperren die Kriminalbeamten die Eni-Tankstelle an der Reichenaustraße für die Spurensicherung ab. | Bild: Florian Förster SWD

Es ist der dritte Verhandlungstag des Prozesses wegen versuchten Mordes. Zwei Angeklagte sitzen deswegen auf der Anklagebank im Landgericht Konstanz. Die Staatsanwaltschaft Konstanz wirft den 35-jährigen und 20-jährigen italienischen Staatsbürgern vor, am 7. Juli 2024 von einem Motorroller aus auf eine Menschengruppe an der Tankstelle an der Reichenaustraße geschossen zu haben. Der zum Tatzeitpunkt 37-jährige Mann wird von einer Kugel getroffen. Sie durchschlägt seinen Oberarm und stoppt in der Brust unterhalb des Herzens.

Was bisher vor Gericht geschah

„Ich habe nicht mal gemerkt, dass ich angeschossen wurde“, berichtet das Opfer. Sein Blick ist gesenkt. Wochenlang habe er Schmerzen gehabt. Immer wieder habe er Angstzustände und Schweißausbrüche. Seit den Schüssen sei er arbeitsunfähig.

Viele Beteiligte, viele Zeugenaussagen

Die Rekonstruktion der Ereignisse erweist sich für das Gericht als knifflig. Ganz eindeutig sind weder die Zeugenaussagen noch die Ermittlungsergebnisse der Beamten der Kriminalinspektion Rottweil, die die Untersuchungen leitet.

Der 35-Jährige wird in Handschellen in den Gerichtssaal geführt. Während der Verhandlung behält er die Fußfesseln an.
Der 35-Jährige wird in Handschellen in den Gerichtssaal geführt. Während der Verhandlung behält er die Fußfesseln an. | Bild: Kerstin Steinert

Sicher ist nur: Vorausgegangen ist der Schlägerei und der anschließenden Schießerei an der Eni-Tankstelle bereits eine körperliche Auseinandersetzung innerhalb der nahegelegenen Diskothek „Grey“. Das sagt ein Kriminalbeamter vor Gericht aus. „Dort ist die Keimzelle von allem“, sagt er. Gegen 4.40 Uhr ist ein Minderjähriger auf der Tanzfläche in Streit mit einem Unbekannten geraten. Der Minderjährige informiert seine Schwester per Telefon. Sie ist die Lebensgefährtin des 35-jährigen Angeklagten. Dieser fährt zusammen mit seiner Lebensgefährtin zum „Grey“ und trifft auf den Minderjährigen.

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Gemeinsam identifizieren sie den vermeintlichen Rivalen von der Tanzfläche und schlagen einen 18-Jährigen zusammen. Der 35-Jährige benutzt dazu einen mitgebrachten Schlagstock. „Man kann sehen, wie der Angeklagte den Schlagstock aus der rechten Hosentasche zieht“, sagt der Kriminalbeamte beim Abspielen eines Überwachungsvideos. Es kommt zu „tumultartigen Szenen“. Die Schlägerei wird von der Security des „Grey“ beendet. Allerdings: Das 18-jährige Prügelopfer ist nicht der Rivale von der Tanzfläche.

Um 5.23 Uhr fallen die Schüsse

Nur rund 20 Minuten später sucht der 35-Jährige zusammen mit dem 20-Jährigen auf dem Motorroller die Gegend nach dem 18-jährigen Rivalen ab. Sie finden ihn und seinen Freund um 5.19 Uhr an der Eni-Tankstelle. Sie steigen ab und prügeln sofort auf den jungen Mann und seinen Begleiter ein. Das ist auf dem Überwachungsvideo der Tankstelle zu sehen.

Diesmal ist der 20-Jährige derjenige mit dem Schlagstock. Ein Security-Mitarbeiter der Tankstelle versucht, einzugreifen. Doch die Angeklagten treten und schlagen auf das Opfer am Boden weiter ein – bis sie mitbekommen, dass die Polizei alarmiert wird. Die Angeklagten lassen von ihrem Opfer ab.

Das 18-jährige Opfer und sein Freund nutzen die Chance, entfernen sich von der Örtlichkeit und treffen dabei auf den 38-Jährigen neben der Anzeigetafel der Tankstelle. Der 18-Jährige erhofft sich Hilfe. Währenddessen fliehen der 35-Jährige und der 20-Jährige auf dem Roller und fahren an dem Opfer, dem 38-Jährigen – das spätere Schussopfer – und seinen Freunden vorbei auf der Reichenaustraße Richtung Bodenseeforum.

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An dieser Stelle setzt die Erinnerung des 38-Jährigen ein. „Da ist mir der Roller aufgefallen. Und auch, dass der eine einen Schlagstock in der Hand hatte“, sagt er. Eine Schusswaffe habe er nicht gesehen. Einmischen wollte er sich auch nicht.

Dass der Roller in der Zwischenzeit offensichtlich wendet und zurückkommt, fällt ihm in dem Moment nicht auf. Auch nicht, dass plötzlich um 5.23 Uhr Schüsse fallen. „Alle Zeugen sagen aus, dass die Schüsse sehr leise waren“, berichtet der Kriminalbeamte vor Gericht. Auch auf dem Überwachungsvideo zeigen die Menschen keine Reaktion auf die Schüsse. Aber der Kripobeamte rekonstruiert anhand der Videoaufzeichnung den wahrscheinlichsten Moment der Schussabgabe. „Die Gerichtsmedizin hat ergeben, dass der Schuss in einer geraden Linie war“, sagt er. Das lasse den Schluss zu, dass der Schuss vom Motorroller aus abgegeben wurde, als sich dieser auf Höhe des Fußgängerübergangs gegenüber der Tankstelle auf der Reichenaustraße befand.

(Archivbild von Juli 2024) Rotes Absperrband sperrt das Gelände um die Eni-Tankstelle am Morgen nach den Schüssen großzügig ab.
(Archivbild von Juli 2024) Rotes Absperrband sperrt das Gelände um die Eni-Tankstelle am Morgen nach den Schüssen großzügig ab. | Bild: Florian Förster

Dass der 38-Jährige getroffen wird, habe er nicht registriert. Es fällt erst auf, als einer seiner Freunde sieht, wie sich seine gelbe Jacke rot verfärbt. „Ich habe ein Brennen gespürt“, sagt er. Dann sei der Schmerz gekommen. Kurz darauf sei er ohnmächtig geworden. „Ich bin erst wieder im Krankenhaus aufgewacht“, sagt er.

Wer hat die Waffe abgefeuert?

Aber wer hat nun geschossen? Das hat das bisherige Verfahren noch nicht offengelegt. In der Anklageschrift geht die Staatsanwaltschaft davon aus, dass der Sozius geschossen hat – also der 20-Jährige. Aus dem Vernehmungsprotokoll des 20-Jährigen geht hervor, dass der Fahrer die Waffe abgefeuert haben soll – also der 35-Jährige. Schmauchspuren befanden sich nach Aussage einer Kriminalbeamtin an den Händen von beiden Angeklagten. Die Nachweise würden aber nur aussagen, dass sich die beiden in der Nähe einer abgefeuerten Waffe befunden haben.

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Noch fehlt auch jede Spur von der Tatwaffe selbst. Nur die Kugel, die dem 38-Jährigen entfernt wurde, lässt Rückschlüsse zu, um was für eine Art Handfeuerwaffe es sich behandelt haben muss. Momentan geht die Kriminalpolizei von einem Revolver aus. Der nächste Verhandlungstag findet wieder am Landgericht Konstanz statt. Start ist am Dienstag, 11. Februar, um 9 Uhr. Es wird noch einen weiteren Verhandlungstag geben. Er wurde auf den 17. Februar angesetzt.