Es ist 18 Uhr. Noch eine Stunde bis zum Feierabend. Endlich hat sie Zeit, sich einen Tee zu machen. Sie setzt das Wasser auf, als plötzlich ein schrilles Piepsen durch die hohen Wände der Rettungswache hallt. Es kommt aus dem kleinen Melder, den Evelyne Braun am Gürtel ihrer Arbeitshose befestigt hat. Eine rauschende Stimme ertönt. Eine ältere Frau braucht einen Rettungswagen. Starke Bauchschmerzen, Atemnot, Verdacht auf Corona.
Evelyne Braun ist Notfallsanitäterin bei den Maltestern in Konstanz. Als sie zwölf Jahre alt war, nahm ihr großer Bruder sie zum ersten Mal mit auf die Rettungswache. Er war dort ehrenamtlich tätig, genau wie sie es bis heute ist. Nur wegen ihm sei sie heute bei den Maltesern. „Ich bin da einfach reingewachsen“, sagt sie. Evelyne Braun machte eine Ausbildung zur Pflegehelferin, zur Arzthelferin, dann zur Rettungssanitäterin. Schließlich die Weiterbildung zur Notfallsanitäterin.

Mittlerweile hat die 55-Jährige zwei hauptamtliche Jobs. In der einen Woche arbeitet sie als Pflegekraft in der Notaufnahme des Konstanzer Klinikums, in der anderen rettet sie Leben bei den Maltesern. Dazu kommt ihr Ehrenamt auf der Rettungswache. Das hat sie bis heute nicht aufgegeben.
Elf von zwölf Stunden und vier Einsätze hat Evelyne Braun heute schon hinter sich. Drei mit Blaulicht, einer mit Notarzt. Ein Herzinfarkt, Rückenschmerzen, Nierenkolik, ein bewusstloser Mann. Dennoch war es bisher ein eher ruhiger Tag. Denn schließlich gab es schon Tage, an denen sie zwölf Einsätze hatte. Einen für jede Stunde ihrer Schicht.
Als ihr Melder piept, nimmt sie das Wasser wieder vom Herd und zieht sich schnell die FFP2-Maske über den Mund. Im nächsten Moment rennt sie mit ihrer Kollegin Josefine Knoch über den Hof der Wache. „Rettungswagen“ steht in dunkelblauen Großbuchstaben auf der knallorange lackierten Motorhaube eines großen Einsatzfahrzeugs.
Bevor Evelyne Braun den Motor startet, drückt sie die Nummer drei auf ihrem Funkgerät. So weiß die Zentrale, dass die Sanitäter den Alarm erhalten haben und auf dem Weg sind. Kurz darauf schallt auch schon der Klang der Sirene durch den Rettungswagen. Tatütata!
Im Slalom manövriert die Sanitäterin den großen Transporter an den anderen Autos vorbei. Es ruckelt, als sie über den Bordstein fährt. Hier muss es sein. Ein großes Haus mit mehreren Wohnungen. Evelyne Braun kennt jede Straße in Konstanz. „Als ich die Ausbildung damals gemacht habe, musste man noch Stadtpläne auswendig lernen“, sagt sie.
Die 55-Jährige arbeitet erst seit fünf Jahren hauptamtlich für die Malteser in Konstanz. Davor war sie neben ihrem zweiten Job im Konstanzer Klinikum über 30 Jahre lang ehrenamtlich für den Rettungsdienst tätig. „Dass man sich irgendwie engagiert, finde ich schon wichtig“, sagt die Sanitäterin. „Andere gehen zum Fußball oder in die Kneipe, ich mach‘s halt hier“.
Am Einsatzort angekommen, muss es schnell gehen. Die Patientin hat starke Bauchschmerzen. Außerdem bekommt sie keine Luft. Bei Patienten mit Corona-Verdacht muss Evelyne Braun trotzdem zuerst ihre Schutzkleidung anlegen. „Das kostet natürlich Zeit“, sagt sie.
Sie zieht sich Gummihandschuhe an und stülpt die Hosenbeine des weißen Schutzanzugs über die Arbeitsstiefel. Den Reißverschluss zieht sie zu bis unters Kinn. Jetzt noch die Schutzbrille. Und zuletzt das zweite Paar Handschuhe.

Die Corona-Pandemie hat die Arbeit der Sanitäterinnen verändert. Eine Maske mussten sie früher nur bei Patienten mit Verdacht auf eine Infektion tragen. „Wenn man mit Maske, in der rechten Hand der schwere Koffer und in der linken das EKG-Gerät, in den fünften Stock laufen muss, bekommt man schon mal keine Luft“, sagt Josefine Knoch. Außerdem müsse bei jedem Patienten zunächst Fieber gemessen werden. „Nach über einem Jahr ist das aber in Fleisch und Blut übergegangen“, sagt Evelyne Braun.
Josefine Knoch drückt ihrer Kollegin das Fieberthermometer in die Hand. Sie selbst muss draußen warten. In die Wohnung der Patientin darf Evelyne Braun nur alleine gehen. Sonst wären beide Sanitäterinnen kontaminiert, falls die Frau tatsächlich Corona hat. „Waren Sie viel draußen?“, „Sind Sie geimpft?“, „Bekommen Sie gut Luft?“, hört man sie aus der Wohnung fragen.
Schließlich ein „36,6“. Kein Fieber. Eher etwas mit dem Bauch, vermutet Evelyne Braun. Sicher weiß man es aber nicht. Die Frau soll dennoch ins Krankenhaus gebracht werden. Der Enkelsohn darf sie nicht begleiten. Wegen Corona. „Tschüss Oma“, ruft er ihr hinterher. „Hab dich lieb.“
Um 19.45 Uhr sind die Sanitäterinnen wieder auf der Wache. Eine Dreiviertelstunde nach eigentlichem Dienstende. Draußen ist es mittlerweile dunkel. Den Rettungswagen fährt Evelyne Braun rückwärts in die Garage. Das Tor fährt langsam herunter, und sie dreht den Schlüssel um. Das Brummen des Motors erlischt. Auf ihrem Funkgerät drückt sie die Nummer zwei. „Standort Wache“ bedeutet das Signal. Der Wagen steht wieder in der Garage.
Evelyne Braun hat nun frei. Zumindest bis zum nächsten Einsatz.