Der Pegel des Bodensees hebt und senkt sich um mehr als einen halben Meter – innerhalb von Minuten. Das Wasser im Seerhein fließt rückwärts. Klingt unglaubwürdig? Genau das soll im 16. Jahrhundert passiert sein. Das Ereignis wird später als „Wasserwunder von Konstanz“ bekannt werden.
Das Naturschauspiel soll sich am 23. Februar 1549 ereignet haben. So hat es der Konstanzer Chronist und spätere Bürgermeister Christoph Schulthaiß festgehalten. Er beschreibt, dass sich der Wasserspiegel beginnend am Morgen mehrfach hob und senkte.
Vier- bis fünfmal pro Stunde soll das bis nach Mittag zu beobachten gewesen sein. Der Wasserstand sei dabei jeweils um eine Elle, also rund einen halben Meter, gestiegen oder gesunken. Noch kurioser: Im Untersee wollen Fischer beobachtet haben, dass das Wasser des Rheins rückwärts floss.
Ist das wirklich passiert? Das sicher zu sagen, ginge wohl nur mithilfe einer Zeitmaschine. Die gibt es zwar nicht, dafür aber eine wissenschaftliche Erklärung. Bei dem Phänomen soll es sich um eine stehende Welle gehandelt haben, nachdem bestimmte Windverhältnisse die Eigenschwingung des Ober- und Untersees angeregt haben.
Auf das Wasserwunder angesprochen, schmunzelt Frank Peeters. Der Professor am Limnologischen Institut der Universität Konstanz kennt den Begriff natürlich. Aus der historischen Beschreibung zieht er gleich die wichtigen Daten heraus; Amplitude (Höhe der Wellenberge) und Frequenz (wie viele Schwingungen pro Zeiteinheit). Und er bemängelt, dass aus der Beobachtung nicht ganz deutlich wird, ob es sich bei den Abständen von zwölf bis 15 Minuten um eine ganze Auf- und Abwärtsbewegung handelt oder nur einen halben Vorgang.

Nochmal einen Schritt zurück: Mit einem Wunder hat das Grundprinzip des Naturschauspiels nichts zu tun. Das Schwappen des Wassers, erklärt Peeters, sei völlig natürlich. „Jeder Wasserkörper macht das.“ Die Auslenkung, die man heutzutage normalerweise misst, betrage allerdings nur wenige Zentimeter.
Peeters hat eine wissenschaftliche Arbeit dabei, die sich mit der Eigenschwingung des Bodensees und damit verbunden auch dem Wasserwunder beschäftigt. Forscher haben in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren verschiedene Messungen auf dem Bodensee dokumentiert.
„Eigentlich ist das alles plausibel“, sagt Peeters zum Wasserwunder. Allerdings müsse man ein wenig einschränken. Mit Sicherheit habe nicht der ganze See, sondern nur die Bucht von Konstanz dieses spezielle Verhalten gezeigt. Denn dort wurde das Phänomen beobachtet.
Es muss schon alles zusammenpassen
Wie kann ein solches Wasserwunder, das vielleicht gar keines war, also entstehen? Vereinfacht gesagt: Zunächst braucht es eine Anregung, etwa durch einen starken Wind aus der richtigen Richtung. Das Wasser im See kommt in Schwingung. Die unterscheidet sich in verschiedenen Teilen des Sees.
Wenn die Schwingung im Konstanzer Trichter und die des restlichen Obersees nun genau zueinanderpassen und sich überlagern, wird das Schwappen verstärkt. Dazu müssen dann noch weitere Faktoren, wie zum Beispiel der Wasserstand in der Bucht passen. Dann könnte eine derartige Beobachtung möglich sein.

Kurzum: Es muss schon alles sehr genau zusammenpassen, damit die stehende Welle solche Ausmaße annimmt, wie 1549 beschrieben. Theoretisch könnte das zwar auch heute genau so wie damals passieren. „Aber wie wahrscheinlich das ist, das ist die Frage“, sagt Peeters. Die Antwort: sehr unwahrscheinlich. In deutlich kleinerem Rahmen komme das Phänomen vermutlich deutlich häufiger vor, es sei nur schwierig zu beobachten.
Und das rückwärts fließende Wasser im Seerhein?
Die ungewöhnliche Veränderung des Seespiegels kann also – selbst in einer so ungewöhnlichen starken Form – erklärt werden. Aber was ist mit dem Wasser, das den Rhein rückwärts entlang geflossen sein soll? Auch dafür hat der Professor eine mögliche Erklärung parat: Heute liege der Unterschied zwischen dem Seespiegel im Ober- und Untersee bei etwa 20 Zentimetern.
Wenn sich der Pegel im Konstanzer Trichter wirklich um rund einen halben Meter gehoben hat, könnten die Wassermassen dort womöglich das Wasser im Seerhein zurückdrängen. So könnte die Beobachtung entstanden sein. Dabei bezieht er sich allerdings auf aktuelle Werte – wie sie vor mehr als 400 Jahren aussahen, ist nicht sicher.
Einiges bleibt unklar, trotz der bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse. „Es wurde dummerweise nur einmal beobachtet“, sagt Peeters mit einem Lachen. Dass es zu dem regelmäßigen Heben und Senken des Seespiegels kommt, das könne man messen. Die Höhe der Unterschiede sei hier das erstaunliche. Dazu müsse man sich auch fragen: Stimmen die historischen Angaben überhaupt, etwa der Anstieg um eine Elle? Wenn nicht, dann wäre das gar nicht so ein Wunder, meint Peeters.
„Jede Bucht macht Schwingungen von ein paar Zentimetern“, das passiere von ganz alleine. Doch alleine, dass die Beobachtung festgehalten wurde, könnte ihr schon eine gewisse Glaubwürdigkeit verleihen. „Wie viele schreiben das auf im Jahr 1549?“, fragt Peeters. Er nennt es erstaunlich, welche Auswirkungen der Vorfall wohl auf die Menschen gehabt haben muss.
Wer war also der Mann, der das Naturschauspiel im Jahr 1549 nicht nur beobachtet, sondern auch für die Nachwelt festgehalten hat? Stadtarchivar Jürgen Klöckler kennt die Antwort. Christoph Schulthaiß war Chronist und Bürgermeister von Konstanz. „Er gehörte ab 1530 dem Großen Rat an und wurde 1558 Bürgermeister“, schreibt Klöckler. Schulthaiß schrieb laut Klöckler eine Stadtchronik, eine Bistumschronik und eine Beschreibung der Erstürmung der Stadt durch die Spanier.
Wie viel bleibt vom Wunder übrig?
Bleibt vom vermeintlichen Wunder also nichts übrig? Wissenschaftler Peeters macht zwar deutlich, dass man diese Beobachtung zwar nicht mit voller Sicherheit erklären könnte. Dafür fehlt es an Daten, etwa zu Wasserständen aus dieser Zeit.
Dazu kommen weitere Einschränkungen, die den Vergleich mit den Beobachtungen von 1549 schwierig machen. Damals sah das Ufer noch anders aus als heute, gibt Peeters zu bedenken. Andere Bauwerke wie Brücken, die Befestigung des Ufers und aufgeschüttete Bereiche spielen eine Rolle. Aber es gibt eben eine vernünftige Erklärung, sagt der Professor.