Die Beweise erdrückend, die Zeugen glaubhaft, der Angeklagte ohne Einschränkung geständig: Der Fall könnte buchstäblich schnell erledigt sein. Und doch entwickelt sich der Prozess gegen einen 32-Jährigen, der zu 18 Monaten Haft ohne Bewährung wegen versuchter schwerer Brandstiftung verurteilt wird, zu einem mehrstündigen Verfahren am Amtsgericht Konstanz. Zur Last gelegt wird ihm, im Dezember 2019 in einem Bekleidungsgeschäft am Augustinerplatz mit einem Feuerzeug Damenunterwäsche angezündet zu haben.
Zunächst gibt es Lob vom Richter
Eine wesentliche Rolle nimmt der Sachverständige für ein psychologisches Gutachten des Angeklagten ein. Ungewöhnlich früh sollte er aktiv werden. Gerade noch hat der Vorsitzende Richter Christian Brase dem 32-jährigen Mann, der 2015 aus dem Irak über die Türkei nach Deutschland gekommen ist, eine „beachtliche Intelligenz“ bescheinigt, ihn für seine guten Deutschkenntnisse und frühere Anstellungen bei einem Discounter und einer Bäckereikette gelobt, auch wenn er beide Jobs verlor.
Die Tat und das Auftreten des Angeklagten – da passt etwas nicht zusammen
Der schüchterne, entrückt dreinblickende Mann auf der Anklagebank lächelt geschmeichelt. Die Fuß- und Handfesseln, die ihm als Untersuchungshäftling angelegt sind, passen nicht ins Bild; passen nicht zu den freundlichen Blicken aus großen Augen hinter der modischen Brille, nicht zur sanften Stimme und zur Kleidung: blaues T-Shirt, rote Jogginghose und schwarze Turnschuhe.
Dieser Mann, der gerade angegeben hat, er habe in seinem Heimatland erst Mathematik studiert und dann den Goldschmied-Betrieb seines Vaters übernommen, soll also mitten in der gut frequentierten Adventszeit in einem Geschäft ein Feuer entzündet haben? Was ohne das Eingreifen der Angestellten dazu geführt hätte, „dass der ganze Laden gebrannt hätte“, wie Richter Christian Brase in der Urteilsverkündung sagen wird?
Vermeintlicher Mathematiker scheitert an der Aufgabe 100 – 6
Zuvor aber zurück zum psychologischen Gutachter, der das Gericht da auf etwas hinweisen möchte, was die Ausbildung des Angeklagten angehe. Dann fragt er den vermeintlichen Mathematiker: „Was ergibt 100 Minus sechs?“ Die Zahl, die er als Antwort erhält, ist hoch, sehr viel höher als 94. Der Sachverständige stellt eine weitere einfache Rechenaufgabe und erhält erneut eine falsche Antwort.
„Ich denke, hierbei kann ich es belassen“, sagt er in Richtung Richter. Sein Punkt ist klar: Der 32-Jährige mag vieles sein, sicher aber kein Mathematiker. Und wie sich wenig später zeigen wird: ganz sicher auch kein Goldschmied.
„Wollen Sie jemand sein, der Sie nicht sind?“
Denn jetzt ergreift auch Verteidiger Gerhard Zahner das Wort und fragt nach der Bedeutung von Karat-Zahlen, auf der gesamten Welt Basiswissen für Goldschmiede. Von seinem Mandanten erhält Zahner jedoch nicht mehr als verständnisloses Lächeln und einen freundlichen Blick aus großen Augen. An fehlenden Sprachkenntnissen liegt das offenkundig nicht.
Zweifel an der psychischen Gesundheit und damit der Schuldfähigkeit seines Mandanten hätten sich dem Strafverteidiger bereits beim ersten Kontakt angedeutet, erklärt er. „Ich bin mir nicht sicher, ob er nicht schon sehr lange und auch im Irak krank war“, sagt Zahner. Christian Brase fragt den 32-Jährigen: „Wollen Sie jemand sein, der Sie nicht sind?“ Schweigen des Angeklagten, ein zaghaftes Nicken bestätigt die Annahme des Richters zumindest teilweise.
Erstes Bild: Eine traurige, aber nicht seltene Flüchtlingsgeschichte
Angedeutet hatte sich das Leben des Angeklagten in einer Schein-Realität bereits bei den Schilderungen zur Person. Aus dem umkämpften Falludscha im Irak sei er mit seiner Frau, dem damals einjährigen Kind und weiteren Familienmitgliedern geflohen.
„Wir waren keine Muslime, wir konnten nicht bleiben“, sagt der 32-Jährige. Weil sie Mandäer sind, eine religiöse Minderheit im Irak mit Elementen des Christen- und Judentums, die von islamistischen Extremisten verfolgt wurde. Seine Frau, die mittlerweile zwei Kinder und seine Schwiegereltern seien in der Türkei zurückgeblieben, für einen Nachzug nach Deutschland „fehlen die Papiere“, sagt der Angeklagte.
Eine Stimme bekehrte ihn zum Judentum
Oder fehlen nicht vielmehr Frau und Kinder? Belegen kann er deren Existenz nicht, weder durch Fotos, noch durch irgendwelche Dokumente oder Post, erklärt sein Verteidiger. Und damit erhält die Glaubwürdigkeit des 32-Jährigen Schlagseite.
Denn in Deutschland habe er erkannt, dass er Jude sei – eine Stimme in seinem Kopf habe ihm das eröffnet. Dass ihm „ein Geist“ etwas zuflüstert, sei nicht nur dieses eine Mal vorgekommen. Jüdische Traditionen oder Feste kennt der 32-Jährige nicht. „Ich bin es im Herzen“, sagt er nur.
Samstägliches Arbeitsverbot als Motiv der versuchten Brandstiftung?
Folgenlos blieb die religiöse Bekehrung nicht, sie führt gewissermaßen zur Verurteilung. Denn als der Mann Anfang Dezember 2019 mit einem Feuerzeug die Polyester-Unterwäsche in dem Geschäft am Augustinerplatz anzündete, rief er laut zweier Zeugen – einer Verkäuferin und einem zum Tatort gerufenen Polizisten – immer wieder: „Samstags keine Arbeit, alle raus!“ Strenggläubige Juden lassen bis heute am Samstag, dem Sabbat, die Arbeit ruhen.
Der Angeklagte ergänzt, er habe die Wäsche auch deshalb „kaputt machen“ wollen, weil sie ihn an die seiner Frau erinnerte. „Ich wusste nicht, was ich mache wegen des Kokains“, sagt er außerdem. Gefährden wollte er niemanden, sagt er selbst, und auch dies bestätigen die Zeugen. Nein, gefährlich wirkt dieser Mann auch nach Stunden der Verhandlung nicht – sondern bemitleidenswert.
Bewährung? Für den Richter „das falsche Zeichen“
Auch Drogenkonsum gehörte bis zur kurz nach der Tat verhängten Untersuchungshaft zu seiner Biografie: gelegentlich Kokain und Ecstasy, regelmäßig Marihuana. Wie er sich die Rauschmittel finanzierte angesichts 300 Euro monatlich, die ihm zum Leben blieben, bleibt offen. Letztendlich wird die zur Tatzeit festgestellte Kokain-Wirkung dazu führen, dass der Gutachter eine dadurch ausgelöste kurzzeitige Psychose und damit eine verminderte Schuldfähigkeit „nicht vollständig ausschließen kann“, wie er erklärt, „aber überzeugt davon bin ich nicht“.
Christian Brase berücksichtigt dies im Urteil dennoch. Eine Bewährung, wie von Verteidiger Gerhard Zahner „unter strengen Auflagen“ gefordert, lehnt das Gericht dagegen ab. „Das wäre das falsche Zeichen“, sagt der Richter. Der Angeklagte blickt vor sich auf den Tisch, immer noch freundlich, nicht mehr lächelnd, sondern tieftraurig.