Daniel F. hat seinen Sohn lieb. So lieb, dass er das Beste mit Martin teilt. Es war der 13. Juli 2018, als er ihm eine Whatsapp schrieb: „90 Prozent THC-Öl hab ich heute bestellt für 30 Euro, soll es heute noch bekommen.“ THC-Öl, das ist Cannabis, reinster Stoff. Eine weiche Droge, heißt es. Eine, die bei 14- bis 16-Jährigen dafür sorgen kann, dass bestimmte Hirnareale unterentwickelt bleiben. Wie Studien zeigen. Doch Daniel F. liest keine Studien. Sie sind ihm, wie so vieles im Leben, egal. Martin ist 15 Jahre alt. Seine Antwort: „Geil, dann testen wir das.“
Und Papa legte nach
Und Papa legte nach: „Ich bekomm heute noch neues Indoor, 50 Gramm“. Indoor ist Drogen-Jargon für hoch potentes Cannabis aus professionellen Zuchtanlagen. Martin: „Geil.“
Wie muss sich Martins Oma gefühlt haben, als sie diesen Chat auf dem Handy des Enkels entdeckte? Und es sollte noch schlimmer kommen.
Auf der Anklagebank sitzt ein stolzer Mann
Martin sei nie ein leichtes Kind gewesen. „Er hat die Gene seines Vaters“, sagt Daniel F. Sein Tonfall eine Mischung aus Entschuldigung und Stolz. Es ist Ende Mai 2020, und F. sitzt in Konstanz auf der Anklagebank. Amtsgericht, Etage 1, Saal 107.
Seine Stimme klingt ein wenig höher, als man es von einem Mann erwarten würde, der aussieht wie er. Unter seinem frisch geschorenen Undercut steckt ein bulliger Typ mit schmalen Augen, grimmiger Miene. Zwischen seinen makellos weißen Turnschuhen blitzen Fußschellen. Seit einem halben Jahr ist Daniel F. in Untersuchungshaft. Vorwurf: „unerl. Abgabe von Betäubungsmitteln durch eine Person über 21 Jahre an einen Minderjährigen u. a.“
Vier Durchsuchungen, jede Menge Drogen
Martins Oma hat ihn angezeigt, wegen der Whatsapp. Doch die Polizei fand mehr, viel mehr. Vier Durchsuchungen, jede Menge Drogen.
Vordergründig wird es in diesem Prozess um Koks und Gras, um Bargeld und eine Discoaffäre, um Daniel F.s Kindheit, seine fünf Haftstrafen und zwölf Therapien gehen. Es geht aber auch um Vorbilder. Und darum, wie die Verantwortung für einen Sohn einen Mann ändern kann. Einen Mann, in dessen Leben es genau eine Konstante gab, wie der psychiatrische Gutachter vor Gericht feststellt: Drogen.
Das Geburtsdatum der Mutter kennt er nicht
Wer ist Daniel F.? Geboren wurde er 1982 in Konstanz, das Jahr, in dem Helmut Kohl Kanzler wurde und Italien in Spanien im Finale Deutschland besiegte. F. wuchs mit beiden Eltern in einfachen, aber stabilen Verhältnissen auf. Die Mutter, sagt er, habe ihn geschlagen, wenn er nicht schnell genug lernte. Schwimmen oder für die Schule. Heute empfinde er deshalb Hass für sie, sie sei „ein Nichts“ für ihn. Er weiß nicht einmal ihr Geburtsdatum.
Zug für Zug zur Alltagsamnesie
Mit 13 Jahren entdeckte er das Gras. Für ihn ist die Droge weniger Kick, mehr ein Vergessen. Zug für Zug zur Alltagsamnesie. Er probiert Ecstasy, Koks und schmeißt die Schule. Zwischen 15 und 16 hat er viele erste Male: Erster Entzug, erste Jugendstrafe, erstes Mal Gast im Zentrum für Psychiatrie Reichenau. Gelegenheitsjobs.
Mit der Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ im Gepäck geht es steil bergab. F.`s Leben dreht Kreise: Therapie, Rückfall, Straftat im Zusammenhang mit Drogen, Haft. Therapie, Rückfall, Straftat im Zusammenhang mit Drogen, Haft. Als wäre er gefangen in einer Zeitschleife. Wo ist sein Weg hinaus? Sucht er ihn überhaupt?
Seine Ex-Partnerin ist auch da
Die Frau, die es wissen könnte, will erstmal eine rauchen. Seine Ex-Partnerin: Melinda M.. Sie hat Daniel F. drei seiner fünf Kinder geboren. Auch Martin, den ältesten Sohn. Sie ist gekommen zur Verhandlung, als Zuschauerin. In der kurzen Pause steht sie suchend im Flur des Amtsgerichts, wo geht es hier raus? Sie ist blond, groß, gesunde Bräune, sonniges Lachen, das blühende Leben. An ihrer Hand Daniels jüngstes Kind, es ist neun und sagt: „Mama, du bist aber kein gutes Vorbild“, als sie sich die Zigarette anzündet.
Wünscht sie ihm den Freispruch?
Sie führt ein bürgerliches Leben, Vollzeitjob. So ganz genau, sagt sie, weiß sie gar nicht, wie es zur Anklage gegen F. kam. Sie sind seit vielen Jahren kein Paar mehr. Hatten aber wieder guten Kontakt nach F.s letzter Haftentlassung im Jahr 2018. Er interessierte sich für sie und die Kinder, vor allem für Martin. War es nicht ihre Mutter, Martins Oma, die der Polizei die Whatsapp-Nachrichten zeigte? „Ja, so etwas“, sie winkt ab. Ob sie ihm den Freispruch wünscht? „Wissen Sie“, sagt sie und atmet hörbar aus, „ich habe immer wieder versucht, ihn da rauszuholen. Es hat nicht geklappt.“ Es ist kein Ja und kein Nein.
Und dann sind da Lichtblicke
Es gibt auch Lichtblicke in F.‘s Biografie: Im Knast holt er den Hauptschulabschluss nach, Note 2,2, Realschulempfehlung inklusive. Jetzt, in der Untersuchungshaft, hat er angefangen zu arbeiten. „Wenn ich das im Gefängnis schaffe, warum nicht auch draußen, ja. Schon, ich möchte mein Leben auf die Reihe kriegen, ja“, sagt er zum Richter. Ganz besonders wichtig sei ihm der gute Kontakt zu Melinda M. Hoffnung zum Prozessbeginn, vorgetragen in einem minimalistischen Singsang, der hier mal ein Adverb, da mal einen Artikel schluckt.
Doch dann tritt ein Zeuge nach dem anderen auf und zeichnet das Bild eines Unverbesserlichen: Viermal gab es Durchsuchungen bei ihm, innerhalb von 14 Monaten. „Ist man beim Herrn F. zu Besuch, findet man immer was“, sagt der Staatsanwalt. F. lässt sich mit einer 17-Jährigen ein, versteckt hier 50 Gramm Marihuana, da Amphetamin, finanziert haben will er alles von den 450 Euro Harz-IV und Tauschgeschäften, immerhin gab es da noch diese Cannabispflanze im Heizungskeller.
Vater: „Sorg dafür, dass das Geld kommt!“
Vier Monate nach der Einladung zum Kiffen schickte Papa Daniel Sohn Martin diese Nachricht: „Sorg dafür, dass das Geld kommt! Ich hab dir 5 Gramm gegeben, nicht dem, sein Problem.“
Martin: „Ok“ Daniel F.: „Lern daraus, ich will es von dir, du siehst das alles zu locker, 25 Euro muss er mir geben, save, bring die mir vorbei.“ Martin: „Ja, ich bring dir heute Abend 50 Euro.“
Er mahlt die Zähne aufeinander, als kaue er Kaugummi
Als der Dialog im Gerichtssaal verlesen wird, blickt F. auf den Boden und mahlt die Zähne aufeinander, als kaue er Kaugummi. „Ja, ich habe ihm fünf Gramm Marihuana gegeben.“
„Wollen Sie auch sagen, warum“, souffliert seine Verteidigerin, eine blonde Frau.
Ja, will er. Es war nach der Haft 2018. Im Gefängnis hatte er regelmäßig Kontakt zu Melinda M. und Martin aufgebaut. Dann sei Martin erwischt worden, als er „im Asylantenheim“ Cannabis kaufte. „Man weiß ja, was abgeht, die sprühen das Zeug ein, mischen es mit Härterem, ich hatte Angst, dass meinem Sohn was passiert. Um das zu kontrollieren, hab ich ihm erlaubt, dass er bei mir rauchen kann.“
Ohne Synthetik, ohne Chemie
Die Strafverteidigerin greift es später im Plädoyer auf: „Sein Gedanke: Bevor der weiß der Geier was woanders raucht – ich weiß, was bei meinem Stoff drin ist, die pflanzliche Variante, ohne Synthetik drin, ohne Chemie.“ Es hört sich an, als würde sie für einen besonders gesunden Bio-Tee Werbung machen.
Die Plädoyers beginnen: „Da fehlen einem die Worte!“
Als der Staatsanwalt später sein Plädoyer beginnt, ist Melinda im Zuschauerraum. Der kleine Sohn, der jüngste, sitzt auf ihrem Schoß. Der sich „gut entwickelt“ und zu dem Daniel F. kaum Kontakt habe, obwohl es auf Facebook gemeinsame Bilder gibt. „Da fehlen einem die Worte: Dass sie Ihrem Jungen fünf Gramm geben…“, sagt der Staatsanwalt. “Sie sind der Papa, zu dem so ein Junge aufschaut, der macht genau das, was sein Papa macht.“ F., leise und aufrichtig erstaunt: „Das hat er nie gesagt.“
„Der verdirbt das Kind noch“
Die Kindsmutter im Zuschauerraum hört zu. Man kann ihrer Miene nicht ablesen, was sie denkt. Aber es gibt einen Sorgerechtsstreit. „Wenn Mutter und Großmutter denken: Mit Herrn F. möchte man nicht viel zu tun haben, den möchte man bei seinem Kind nicht haben, weil er verdirbt‘ s noch“, sagt der Staatsanwalt, „dann ist das nicht falsch, das muss man Ihnen ganz ehrlich sagen.“ „Ja“, sagt F. Der Sohn, den er zum Kiffen einlud, ist mittlerweile im Internat.
Der Angeklagte hat die letzten Worte. „Ich hab den Bezug zu meinem Sohn erst bekommen ab meiner Inhaftierung, und ich wollte das nicht verlieren. Es tut mir leid.“ Der Richter und die Schöffen ziehen sich zur Urteilsverkündung zurück. Melinda M. wartet.
Manche nennen ihn „Aldi-Paragraph“
Es sieht nicht gut aus für Daniel F. Es gibt eine Sache, die ihn vor dem Gefängnis schützen könnte: Paragraph 64, Strafgesetzbuch. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Maßregelvollzug in der forensischen Klinik. Manche nennen den 64-er „Aldi-Paragraph“. Weil man billiger davon kommt. Wer sich gut macht im Entzug, kann nach der Hälfte der Zeit entlassen werden.
Der Maßregelvollzug ist in Deutschland heillos überfüllt, auch in den Zentren für Psychiatrie in der Bodenseeregion. Experten fordern schon länger eine Reform des 64ers. Viel zu leicht, so der Vorwurf, kämen Straftäter damit davon – und nähmen anderen Patienten die Plätze weg. Straftäter, die vor Gericht nur behaupten, sie wollten den Entzug.
Paragraph 64 kam bei F. schon einmal zur Anwendung. Die Ärzte entließen ihn wieder in die normale Haft, weil sie keine Aussicht auf Erfolg sahen – und weil F. Drogen geschmuggelt haben soll. Insgesamt kommt er auf zwölf Suchttherapien, davon drei Langzeittherapien. „Auffallend ist, dass er nach allen Behandlungen in kurzer Zeit rückfällig geworden ist“, hatte der psychiatrische Gutachter während des Prozesses über Daniel F. gesagt: „Er zeigt keine Einsicht, sein Leben zu verändern.“ Voraussetzungen für einen positiven Therapieverlauf? Sehe er nicht, sagte der Arzt.
Wie viel ist zu viel?
„Wie oft sollen wir Ihnen noch unter die Arme greifen?“, hatte der Staatsanwalt im Plädoyer gefragt. „Kann man davon ausgehen dass eine derart intensive und kostenträchtige Maßnahme Erfolg verspricht?“ Er schüttelt den Kopf, macht eine ratlose Geste mit den Händen: „Warum denn zum 13. Mal? Warum?“
Ein Jahr Gefängnis kostet in Baden-Württemberg laut Justizministerium 45.000 Euro. Ein Jahr Forensik etwa dreimal so viel. Daniel F. saß viele Jahre ein, dazu die neun Monate Forensik, elf andere Therapien, die Verhandlungen, die Bewährungshelfer – F. und sein Drogenproblem dürften den Steuerzahler einen mittleren sechsstelligen Betrag gekostet haben.
Doch ist das Justizsystem nicht darauf ausgelegt, Angeklagte zu resozialisieren? Es immer wieder zu versuchen? Und bringt das nicht auch der Gesamtgesellschaft etwas? Wann muss man sagen: Es reicht?
Daniel F. ist erschüttert – es gibt Stress
Der Richter und die zwei Schöffen befinden, dass es reicht. An diesem ersten und einzigen Verhandlungstag. Zwei Jahre und sechs Monate, keine Bewährung, kein Maßregelvollzug, verkündet der Richter das Urteil.
Daniel F. ist sichtlich erschüttert. Er verzieht den Mund, schüttelt den Kopf im stillen Unglauben, seine Miene wütend. Er schmeißt seine Mundschutzmaske auf den Boden. Dann flucht er.
„Beruhigen Sie sich mal wieder!“, bellt der Richter.
„Tschuldigung, was los?“, keift Daniel F. Er steht auf, Drohgebärde. Die zwei Polizisten im Raum hasten herbei. Als sich F. langsam wieder hinsetzt, um den Rest des Urteils über sich ergehen zu lassen, erhebt sich Melinda M. und nimmt das Kind bei der Hand.
„Reden Sie weiter, ich hör gar nicht zu“, patzt Daniel F. und dreht sich weg. Der Richter schweigt. „Sie haben“, fährt er dann fort in ruhiger Wut, „billigend in Kauf genommen, den eigenen Sohn an eine Betäubungsmittelabhängigkeit heranzuführen.“
Die Mutter dieses Sohnes läuft durch den Saal mit dem anderen Kind. Sie gehen auf die Ausgangstür zu, die Köpfe von Daniel F. abgewandt. Sie schließen die Tür, kein Blick zurück. Der Richter sagt: „Ich weiß genau, worauf Sie gehofft haben!“
Daniel F. hört nicht mehr zu, er schaut aus dem Fenster, auf die Straße. Unten laufen Melinda M. und ihr Kind davon.
Hinweis: Alle Namen in diesem Artikel wurden geändert