Nicht Streuhau, nicht Seetorquerung, nicht Mettnaukur: Im November und Dezember 1969 war das „Unternehmen Jugendlokal„ das beherrschende Thema in Artikeln und Leserbriefen im SÜDKURIER Radolfzell. Bis das Schild des Leierkastens über dem Eingang in der Löwengasse 22 hing, gab es einen munteren Disput, der den Zeitgeist Ende der Sechziger Jahre – nicht nur in Radolfzell – und die Auseinandersetzung der Generationen in einer Stadt widerspiegelt.

Verläuft das Jugendlokal im Sande?

Wie so oft fühlten sich die einen falsch verstanden, die anderen übergangen. Manche sogar beides. Der Ton in den Leserbriefen reichte von beleidigt bis verständig, von süffisant bis heiliger Ernst. Unter der Überschrift „Verläuft das Unternehmen Jugendlokal wieder einmal im Sande?“ veröffentlichte der SÜDKURIER am 26. November 1969 eine Auswahl von Leserzuschriften.

Stadträtin fühlte sich als nicht jugendfeindlich hingestellt

Falsch verstanden und von der Tageszeitung „als mindestens nicht jugendfreundlich hingestellt“ fühlte sich Stadträtin Maria Blesch. Sie schrieb: „Im Übrigen habe ich stets die Ansicht vertreten, dass die Radolfzeller Jugend ein von ihr gewünschtes Tanzlokal braucht. Aber ich halte aus baulichen Gründen das in Aussicht genommene Lokal für absolut ungeeignet, da es von der Stadt zum Abbruch aufgekauft wurde. Auch kann es mir niemand verübeln, wenn ich mich für berechtigte Interessen der Anwohner einsetze, die von der Poststraße her genügend mit Lärm strapaziert werden. Wir leben ja schließlich in einem demokratischen Staat!“ In Sachen Lärm sollte Maria Blesch in den folgenden elf Leierkastenjahren recht behalten. An manchen Samstagabenden war es vor und im Leierkasten wirklich ein bisschen laut.

Was der Jugend geboten wird

Edith Boivin befand, es gebe schon genügend Möglichkeiten für die Jugend: „Aus den verschiedenen Berichten muss angenommen werden, dass in Radolfzell der heranwachsenden Jugend gar nichts geboten wird.“ Der Satz kommt einem 50 Jahre später erstaunlich aktuell vor. Doch Leserin Boivin nahm die Wirklichkeit im Jahr 1969 anders wahr: „Ich darf mit Sicherheit behaupten, Möglichkeiten einer Beschäftigung, eines Zusammentreffens, einer Unterhaltung sind doch für jeden in Radolfzell gegeben. Begonnen mit den Jugendgruppen, musikalische Gruppen, die Veranstaltungen im Haus der Jugend und anderes.“

Wer nicht weggeht sucht einen Ort für sich

Die Jugend antwortet mit Spott, Bernd Toni Wiesemann schrieb: „Dass wir, die Radolfzeller Jugend bisher nicht imstande waren, unsere eigenen Interessen mit erforderlichem Nachdruck durchzusetzen, liegt wohl daran, dass es die meisten Jugendlichen, denen es an erforderlicher Tatkraft nicht mangelt, doch vorziehen, dieses Städtchen, in dem nichts los ist, zu verlassen.“

Die Leierkastenwirte waren beim selben Friseur: Hans-Joachim „Hotte“ Schiller und Kurt „James“ Graf feiern im ...
Die Leierkastenwirte waren beim selben Friseur: Hans-Joachim „Hotte“ Schiller und Kurt „James“ Graf feiern im Dezember 1975 sechs Jahre Leierkasten mit einem Lebkuchen und der „Aktion Altersheim“ – zehn Pfennig pro Getränk gehen ans Altersheim. | Bild: Gert Hehl

Ein langer Satz, dem ein weiterer folgt: „Wer wollte es uns, den hier verbleibenden, braven, bescheidenen und angepassten Jugendlichen verdenken, wenn wir es vorziehen unser Vergnügen in anderen Städten zu suchen, gibt es doch dort nicht die lieben Nachbarn, für die der Anblick eines engumgschlungenen Pärchens ein willkommenes Gesprächsthema ist.“ Solche Pärchen soll es später auf dem Sofa des Leierkastens gegeben haben. Bernd Wiesemann konnte es auch kurz, als Schlusssatz verfasste er ein Friedensangebot: „Womit ich nichts gegen meine Nachbarn gesagt haben wollte, denn die sind ok.“

Die Umfrage im Lokal

Ob die ältere Generation über Bernd Toni Wiesemanns Leserbrief wenigstens ein bisschen schmunzeln konnte? Die Gäste im Leierkasten sicher. Dort machte sich der SÜDKURIER auf die Suche nach Eindrücken und Stimmen. Am 13. Dezember 1969 oder sechs Tage nach Eröffnung des Lokals in der Löwengasse erschien die Umfrage mit der Schlagzeile „Im Leierkasten ist die Radolfzeller Jugend unter sich“. Astrid Lawrenz prophezeite: „Jugendlokale in dieser Form haben Zukunft.“ Siegfried Joretzki sagte, warum: „Die Jugendlichen fühlen sich hier wohl, frei. Hier wird niemand bevormundet.“

Leierkasten wäre in einer Großstadt kein Thema gewesen

Hubert Holzinger verstand die ältere Generation nicht, die den Leierkasten habe verhindern wollen: „In einer Großstadt wäre eine solche Aufregung um diese Lokale überhaupt nicht denkbar. Gegen andere Gaststätten muckt auch niemand auf, deshalb scheint es so, als wollten die Radolfzeller nichts Neues hier haben.“ Holzinger stellte eine These für den Generationenkonflikt auf: Vielleicht sei es auch ein gewisser Neid der älteren Einwohner auf die heutige Jugend, da sie es in der damaligen Zeit nicht so gut gehabt hätten.

Keine Schlager- und Radaubude

Rudolf Walter, als damaliger Vorsitzender des Stadtjugendrings kam ebenfalls zu Wort: „Das Lokal macht auf mich keineswegs den Eindruck einer Schlager- und Radaubude. Man darf nicht alle Menschen, die lange Haare tragen, zu schlechten Menschen abstempeln.“ Es soll tatsächlich Menschen gegeben haben, die mit kurzen Haare den Leierkasten betraten. Die waren dann meistens gerade bei der Bundeswehr.

Die Fünziger-Party

Wie es sich für die Jugend im Jahr eins nach dem Jahr 68 gehörte, war sie lässig bis aufmüpfig, heute würde man sagen – cool. Und die jungen Gäste, die in der Zeit vom 7. Dezember 1969 bis zum 30. Juni 1980 das Lokal in der Löwengasse 22 betraten, sind entgegen ihrer damaligen Erwartung älter geworden. Dem Leierkastenschild sieht man die vergangenen Tage seither kaum an. Am Samstag, 7. Dezember, 50 Jahre nach der Eröffnung wird es als Symbol für die „gute, alte“ Zeit des Leierkastens in der Zeller Kultur aufgestellt. So wild dürfte die Party nicht werden, die Gäste von einst sind 40 bis 50 Jahre älter geworden. Gereift gewissermaßen.

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