Bart gewinnt. Günter Neurohr war der einzige von vier Kandidaten, der 1976 mit einem damals trendigen Oberlippenbart in den Wahlkampf um den Posten des Oberbürgermeisters von Radolfzell ging. Schneidig wie sein Aussehen soll sein Auftritt im Wahlkampf gewesen sein. So kannte man ihn von Singen, wo Neurohr als Bürgermeister nach SÜDKURIER-Berichten durchaus wagte, gegen die herrschende Meinung und den damals unterm Hohentwiel regierenden OB Friedhelm Möhrle „in die offene Feldschlacht“ zu ziehen. In Singen hätten es einige Neurohr angelastet, dass im Rathaus „der Haussegen schief hing“. Andere hätten in dem Pfälzer den Mann im Rathaus gesehen, „der gelegentlich gegensteuerte und aufmuckte“, so der Kommentator.

2019: Roland Dost war einer der vier Kandidaten im Wahlkampf 1976. Wo früher der SÜDKURIER in Radolfzell Geschäftsstelle und Redaktion ...
2019: Roland Dost war einer der vier Kandidaten im Wahlkampf 1976. Wo früher der SÜDKURIER in Radolfzell Geschäftsstelle und Redaktion hatte, firmiert heute die Parfümerie Gradmann. | Bild: Becker, Georg

Die „offene Feldschlacht“ sollte das Markenzeichen von Neurohr als OB in Radolfzell bleiben. Auch dass er seinerseits bei Gegnern, die gegen seine Pläne aufmuckten, gegensteuerte, ist in Radolfzell überliefert. Doch wirklich überraschend war an diesem Sonntag im September 1976, dass der neue OB von Radolfzell bereits im ersten Wahlgang feststand. Einzig „meine Frau“ (Neurohr) habe mit dem Ergebnis gerechnet. Neben dem Pfälzer Neurohr hatten drei Radolfzeller kandidiert: die Juristen Meinrad Fleig und Hartmut Janzer sowie der Bahnbeamte Roland Dost. Doch Ingenieur Neurohr erreicht bereits im ersten Wahlgang mit 51,16 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit.

1976: Mit Schnauzer – Günter Neurohr im OB-Wahlkampf in Radolfzell.
1976: Mit Schnauzer – Günter Neurohr im OB-Wahlkampf in Radolfzell. | Bild: SK-Archiv

Besonders Meinrad Fleig, der in Singen als Stadtoberrechtsrat arbeitete, hatte sich mehr ausgerechnet. Er kam auf 40,07 Prozent und war ziemlich enttäuscht: „Mit diesem Ergebnis habe ich in dieser Deutlichkeit nicht gerechnet.“ Er habe Dost und Janzer mehr Stimmen zugetraut und fest mit einem zweiten Wahlgang gerechnet. Die beiden Juristen waren sich einig, sie wollten nicht noch einmal in einem OB-Wahlkampf antreten. Wenn schon denn schon wollten sie OB in ihrer Heimatstadt sein.

Fleig geht nach Kehl, Janzer bleibt bei der Bahn

Fleig ist kurz darauf als Professor an die Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Kehl und die Polizeifachhochschule in Villingen-Schwenningen berufen worden. Hartmut Janzer hat seine Karriere bei der Deutschen Bahn fortgesetzt. 1978 ist er zum Leiter der Aufbauverwaltung der Sozialverwaltung Südwest ernannt worden, danach war er Geschäftsführer der Bahnversicherungsanstalt. Janzer (79) lebt in Ebringen bei Freiburg und sagt heute, er habe die Geschehnisse damals verdrängt: „Da gibt es nichts Erinnerungswertes.“ Janzer erreichte 1976 sechs Prozent der Stimmen.

Die Flüsterpropaganda

Der SÜDKURIER beschrieb am Tag vor der Wahl die Stimmung, wie sie auch in der Stadtchronik nachzulesen ist: „Nach einem temperamentvollen und harten, in der Diskussion meist sachlichen, aber in der letzten Phase der Flüsterpropaganda leider sehr emotionell aufgeheizten Wahlkampf dürfte heute so etwas wie eine Denkpause einsetzen. Morgen, am Wahlsonntag, haben 15 825 Wähler das Wort, wem sie ihre Stimme geben“, schrieb der SÜDKURIER am 11. September 1976.

1976: „Neurohr ist OB“ – auf diesen Sonderdruck warteten die Menschen in der Stadt. Wahrscheinlich ist der Sonderdruck ...
1976: „Neurohr ist OB“ – auf diesen Sonderdruck warteten die Menschen in der Stadt. Wahrscheinlich ist der Sonderdruck in der Druckerei Meurer gesetzt worden. Bild: Foto Liedl, Stadtarchiv Radolfzell | Bild: Foto Liedl, Stadtarchiv Radolfzell

Roland Dost (78) hat trotz seines Ergebnisses von 2,6 Prozent oder 294 Stimmen seine Kandidatur in guter Erinnerung. „Für mich war es ein fairer Wahlkampf, es ist nie ein böses Wort unter den Kandidaten gefallen.“ Als Oberinspektor bei der Bahn rechnete er sich gegen zwei Juristen und einen Bürgermeister keine großen Chancen aus. Seine Bewerbung habe er aus Verbundenheit mit der Stadt Radolfzell abgegeben: „Ich wollte Verantwortung tragen, ich war in vielen Vereinen, ich wollte mich für die Stadt engagieren“, sagt Dost heute. Der Sieg von Neurohr sei für ihn absehbar gewesen: „Er war populärer als wir anderen Kandidaten.“ Dost selbst erinnert sich an ein vertrauensvolles Verhältnis mit Günter Neurohr: „Das änderte sich erst am Ende seiner ersten Amtsperiode.“

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Wie in Singen polarisierte Neurohr auch in Radolfzell. Nach den Zeiten der großen Mehrheiten unter dem 1976 überraschend verstorbenen Fritz Riester nahmen die Debatten an Fahrt auf. Wie viele Oberbürgermeister setzte Neurohr nach seinem Amtsantritt im Rathaus das Personalkarussell in Gang. Er machte Lothar Vetter im Hauptamt zu seinem Vertrauten, während er den früheren Riester-Vertrauten Helmut Gräble vom Bauamt ins politisch weniger bedeutsame Amt für öffentliche Ordnung versetzte. Auch Neurohrs Verhältnis zu Bürgermeister Franz Schanz galt als angespannt.

Neurohr wird drei Mal gewählt

Obwohl politisch wegen seiner als „selbstherrlich“ bezeichneten Art in der Stadt umstritten, konnte sich Neurohr bei zwei weiteren OB-Wahlen 1984 und 1992 behaupten. Äußerst knapp war es 1992, als ihn der spätere Landrat Frank Hämmerle mit dem Slogan „OB Hämmerle kommt“ herausforderte. Auch Siegfried Lehmann als Stadtrat der Grünen bewarb sich um das Amt. Zwei Gegner waren einer zu viel, OB Hämmerle kam nicht, Günter Neurohr setzte sich im zweiten Wahlgang durch. Er analysierte nicht ganz unbescheiden, der Wähler habe erkannt, welche Leistungen in den letzten Jahren erbracht worden seien. Auch bei der Wahl 1992 galt: Neurohr trug Bart, Hämmerle und Lehmann nicht.