Um kurz nach 18 Uhr formierte sich eine Schlange vor den Eingang des Milchwerks. Es fing an heftiger zu regnen, Schirme wurden ausgepackt und Kapuzen aufgesetzt. Rund 200 Radolfzeller waren trotz des Wetters an diesem Abend ins Milchwerk Radolfzell gekommen, weil sie ihren zukünftigen Oberbürgermeister erleben wollten oder sich eine Hilfestellung zur Wahlentscheidung am 17. Oktober erhofft hatten.
Die Stadtverwaltung hatte vor dem Milchwerk eine große Leinwand aufgebaut, damit auch alle, die nicht ins Milchwerk konnten, die offizielle Kandidatenvorstellung der Stadt mitverfolgen konnten. Die meisten haben sich allerdings wohl eher für den Livestream im Internet entschieden als fürs Public Viewing im Milchwerkhof.
Auf der Bühne versuchten zwei Kandidaten die Wähler von sich und ihrem Programm zu überzeugen. Der Dritte wollte einfach nur die Öffentlichkeit nutzen, um seine bizarre Weltanschauung auch mal vor größerem Publikum zu äußern (siehe Text unten auf dieser Seite). Das Los entschied die Reihenfolge und beginnen durfte der Amtsinhaber Martin Staab.
Dieser betonte anfangs seine Ausbildung und seinen Werdegang in der kommunalen Verwaltung. Er habe auch in den vergangenen acht Jahren Fehler gemacht und daraus gelernt. „Erfahrung nennt man das“, fasste Staab zusammen. Das Handwerk des Oberbürgermeisters habe er gelernt. Mit diesem Bild schloss er auch seine eigene Vorstellung. Die Kommunalpolitik sei kein „Ponyhof“, das sollte man einem Profi anvertrauen, riet Staab den Radolfzellern.
Herausforderer tritt energisch auf
Sein Herausforderer Simon Gröger trat bei seiner Vorstellung energisch vor das Rednerpult, sprach eindringlich zu den Menschen im Milchwerk. „Für Radolfzell gibt es nur einen Weg, den Radolfzeller Weg“, sagte Gröger. Auch er betonte seine fachliche Eignung als studierter Wirtschaftswissenschaftler und heutiger Wirtschaftsförderer der Stadt Tuttlingen. Zudem kündigte er einen neuen Umgangston an, nicht nur im Rathaus, sondern in der ganzen Stadt. Er versprach „ein offenes Ohr für die kleinen und großen Dinge“ zu haben.

Bei der Vorstellung des Wahlprogramms wechselte Martin Staab zwischen Lob für das bisher erreichte und seinen Zielen in den nächsten acht Jahren. Beim Ausbau von erneuerbaren Energien sei man zwar vorbildlich, dennoch reichten die geplanten Solaranlagen bei Weitem nicht. Er wolle auf Speichertechnologie setzen, damit auch Privathaushalte den günstig produzierten, nachhaltigen Strom abends nutzen könnten.
Der Stadtentwicklungsplan Step 2030 sei für Staab „Handlungsleitfaden und Richtschnur“ zugleich, für Vereine wolle er einen institutionalisierten Vereinsstammtisch alle drei Monate einrichten und auch für seinen Bürgerentscheid im Streuhau warb Staab erneut. Der Ausbau der Kitaplätze sei zwar ein ambitioniertes Projekt, aber „ich werde nicht eher ruhen, bis jedes Kind einen Betreuungsplatz hat“, sagte Staab kämpferisch. Radolfzell könne vieles schaffen, nur eben nicht alles auf einmal.

Simon Gröger will mit seinem Wahlprogramm mit Radolfzell in die Zukunft starten, statt im Hier und Jetzt zu verharren. Dafür brauche es Vertrauen und Empathie. Als erste Amtshandlung versprach Gröger jede städtische Einrichtung zu besuchen und mit jedem Mitarbeiter Gespräche zu führen. „Mitarbeiter brauchen Luft zum Atmen“, beschrieb er seinen Führungsstil.
Ein neues Innenstadtkonzept solle die Altstadt stärken. Dieses wolle er schnell erstellen und schnell umsetzen, denn die Händler hätten genug unter der Pandemie gelitten, so Gröger. Massentourismus lehne er ab, Umweltschutz sei eine „Herzensangelegenheit“ und eine moderne Wirtschaftsförderung unter ihm als OB Chefsache. Die Ortsteile will Gröger mehr einbeziehen, sie aber gleichzeitig individuell stärken. „Das Zuhören ist hier bisher zu kurz gekommen“, schlussfolgerte er aus seinen Besuchen in den Ortsteilen.
Eine der Fragen aus dem Publikum bezog sich auf die Wahlkampffinanzierung. Simon Gröger gab an, von den Ortsverbänden der CDU, SPD und Grünen finanzielle Mittel erhalten zu haben, den Löwenanteil seines Wahlkampfes bezahle er allerdings selbst. Er trete als parteiloser Kandidat an. Martin Staab tritt auch parteilos an, er finanziere sich selbst, habe aber Spenden von Privatpersonen erhalten.