Eigentlich ist es der Angeklagten auf den ersten Blick kaum zuzutrauen, dass sie mit einem großen Küchenmesser bewaffnet und wutentbrannt auf einen anderen Menschen losgeht. Auf der Anklagebank sitzt eine 55 Jahre alte Frau aus Radolfzell, die mit zarter, hoher Stimme spricht. Wenn sie versucht, sich zu erinnern, streicht sie die Fransen ihres Ponys aus dem Gesicht, man sieht ihr das angestrengte Nachdenken an und die eigene Irritation über sich selbst.
Angeklagte ist schwer psychisch krank
Denn ihr Verstand funktioniert schon lange nicht, wie er sollte. Ohne die richtigen Medikamente verfällt sie in Verfolgungswahn, sieht und spürt Anfeindungen von allen Seiten und hat die feste Überzeugung, jeder in ihrem Umfeld möchte ihr etwas Böses tun. Chronifizierte schizoaffektive Störung nennt der psychiatrische Gutachter ihren Zustand.
Und in diesem hat sie Anfang 2020 ihre Nachbarin mit einem Küchenmesser angegriffen. Sie soll ihr die Klinge an den Hals gehalten und versucht haben, sie in ihre Wohnung zu ziehen. Die Nachbarin hatte sich befreien können und rief die Polizei. Wegen Nötigung ist die 55-Jährige nun vor dem Konstanzer Landgericht zu einer Bewährungsstrafe von drei Jahren verurteilt worden. Wegen ihrer schweren psychischen Erkrankung gilt sie als schuldunfähig.
In der Verhandlung sollte nur geklärt werden, ob sie in die Psychiatrie eingewiesen werden muss oder nicht. Grund für den Angriff sei die feste Überzeugung gewesen, die Nachbarin habe es auf die Wohnung der Angeklagten abgesehen. Sie hätte sie für ihre eigene Tochter haben wollen. „Meine Tochter lebt mit ihrer Familie 600 Kilometer entfernt und war gerade ein Mal zu Besuch“, berichtet die Nachbarin. Alles hätte allein im Kopf der Angeklagten stattgefunden.
Baldrian-Tabletten statt Psychopharmaka
Die 55-Jährige hatte zum Tatzeitpunkt versucht ihre Krankheit mit naturheilkundlichen Medikamenten in den Griff zu bekommen. Die Nebenwirkungen der Psychopharmaka hätten sie belastet, berichtet sie. Mit etwa Anfang 20 hätte sich die Krankheit das erste Mal gezeigt. Mehrere Aufenthalte in psychiatrischen Einrichtungen, mal kürzer, mal länge, hat sie im Lauf ihres Lebens schon gehabt.
Letztlich versuchte sie mit Baldrian und Hopfen die Gedanken, jemand würde sie anfeinden, verfolgen oder ihr schaden wollen, ruhig zu stellen. Doch die Ängste kamen zurück. Briefe mit wilden Anschuldigungen habe sie in der gesamten Nachbarschaft verteilt, berichtet die Nachbarin. Die Angeklagte selbst erinnert sich so: Sie sei zu diesem Zeitpunkt so verängstigt gewesen, sie habe immer mit dem Küchenmesser unter dem Kopfkissen geschlafen, habe ohne es nie das Haus verlassen.
In ihrer eigenen Erinnerung habe sie mit der Nachbarin nur reden wollen. Dass sie sie mit dem Messer bedroht haben soll, scheint aus ihrer Erinnerung verschwunden zu sein. Eines der Symptome ihrer Erkrankung, wie der Gutachter erklärte. Immer wieder hatte sie Lücken in ihrer Biografie, Erzählungen fehlte der zeitliche Zusammenhang, mit Daten aus ihren Unterlagen aus früheren Verhandlungen konfrontiert, zeigte sich die Angeklagte höchst irritiert.
Schon 2006 hat sie eine andere Frau mit einem Messer angegiffen
Dabei war es nicht ihre erste Tat dieser Art. Bereits 2006 ist sie mit einem Messer auf eine Frau losgegangen und habe diese auch verletzt. Nur mit körperlicher Gewalt zweier Zeugen habe sie dann von ihrem Opfer abgelassen. Die lange Zeit zwischen den beiden Taten und das passive Verhalten der Angeklagten, nachdem sich die Nachbarin losreißen konnte, sprachen für die 55-Jährige, gab der Gutachter zu bedenken. Mit den richtigen Medikamenten sei sie keine Gefahr für die Allgemeinheit, so der forensische Psychiater. Sie müsste aber in engem Kontakt mit Ärzten und Betreuern bleiben. Während der Verhandlung zeigte sich die Angeklagte als die freundliche und einsichtige Frau, die sie vermutlich ohne ihre Erkrankung auch sein könnte.
Seit zehn Monaten gehe sie wieder regelmäßig zu einem Psychiater, nehme Medikamente und lasse sich alle drei Monate testen, ob die Tabletten auch korrekt eingenommen würden. Zu ihrer gesetzlichen Betreuerin halte sie regelmäßigen Kontakt. Eine Arbeit in einer Behindertenwerkstatt habe sie nach einem zweiwöchigen Praktikum ebenfalls in Aussicht. Ihre Zwillingstöchter, die seit mehr als 15 Jahren in Pflegefamilien leben, würden sie auch jede zweite Wochen besuchen.
Nach einer Phase der Psychose gehe das Leben der Angeklagten wieder einen strukturierten Weg, das sah auch das Gericht ein. Aus diesem Grund wurde die Einweisung in eine Psychiatrie auf Bewährung ausgesetzt. Um nicht doch ins Zentrum für Psychiatrie eingewiesen zu werden, muss die 55-Jährige sich an strenge Auflagen halten, eine noch engmaschigere Kontrolle ihrer Medikation sowie regelmäßige Termine in der forensischen Ambulanz des ZfP einhalten.
Bewährung mit gutem Gewissen
„Wir können hier guten Gewissens die Bewährung anwenden“, war sich auch der vorsitzende Richter Arno Hornstein sicher. Die Angeklagte sei einsichtig und die Bewährungsauflagen würden ihr weiter helfen mit ihrer Erkrankung zurecht zu kommen. Mit der Nachbarin wohne die 55-Jährige noch immer Tür an Tür. Doch seit vielen Monaten sei wieder Frieden in die Nachbarschaft gekehrt, berichtet die Zeugin. Sie selbst habe lange mit dem Angriff zu kämpfen gehabt, doch habe sie der 55-Jährigen verziehen. „Es hat mich viel Kraft gekostet, doch ich bin ihr nicht böse.“