Die Aktion dauerte eine Stunde. Am vergangenen Freitag, dem Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit einer Behinderung, schrieb der Inklusionsrat mit Sprühkreide auf einen 400 Meter langen Rundgang durch die Kernstadt fast 50 Mal die Mahnung „Barriere“ an Hindernissen am Boden. Stadträtin Gisela Kögel-Hensen (FGL) lief direkt nach der Aktion einen Teil der Strecke ab: „Mir war gar nicht bewusst, wie viele Hindernisse und Stolperfallen es in unserer Stadt gibt“, so ihre erste spontane Reaktion.

Herbert Reuter markiert eine Stolperfalle mit Kreide.
Herbert Reuter markiert eine Stolperfalle mit Kreide. | Bild: Georg Lange

Jutta Kesselheim ist Witwe. Im vergangenen Jahr verstarb ihr Mann an Krebs. Leider habe er nicht mehr erleben können, dass der Bahnhof barrierefrei wird, er einfacher spazieren oder mit einem Rollstuhl unkompliziert in die Stadt kommt, bedauerte die Witwe. Ihr Mann litt an Multiple Sklerose (MS), die ihm das Heben seiner Beine schwer machte. Für seine Stadtgänge nutzte er einen faltbaren elektrischen Rollstuhl.

Jutta Kesselheim begleitete ihn dabei und kennt die Radolfzeller Hindernisse und Stolperfallen allzu gut: „Ich könnte noch mehr Barrieren, auch Richtung Mettnau, mit Sprühkreide einzeichnen, weil man überall nicht weiterkommt oder weil es schwierig wird, wenn man den Rollstuhl schiebt.“

Kaufe man einen großen schweren Elektro-Rollstuhl, so sei man damit auch nicht mobil, so Jutta Kesselheim, weil man dafür eigens ein großes Auto brauchen würde. Und mancher Parkplatz für Behinderte sei so konzipiert, dass man Probleme habe, überhaupt aus dem Fahrzeug zu steigen.

Bordsteinkanten sind unüberwindbare Hürden

Häufig komme man mit Rollstühlen nicht über Barrieren, besonders wenn der Partner schwerer sei als man selbst, erzählte Kesselmann, und wird konkret: Mit den kleinen Rädern bleibe man an Bordsteinkanten hängen. Zerre man am Rollstuhl, so laufe man Gefahr, den Ehemann auf die Straße auszukippen. Des Öfteren habe sie ihren Mann vom Boden aufheben müssen. Beim Sturz am Schachtdeckel einer Kanalisation beispielsweise, an den überstehenden Pflastersteinen oder an den Bordsteinkanten.

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Während des Gesprächs zückte Jutta Kesselheim parallel die Sprühkreide und schüttelte die in der Dose befindlichen Kugeln mit einer außerordentlichen Kraft, die irgendwie zwischen Tatendrang, Zorn und Trauer liegt. Dann machte sie sich über mehrere Gullys und Pflastersteine her und sprühte mit ihrer Schablone das Wort „Barriere“ auf die Fallen.

Obere Etagen im Amtsgericht nicht erreichbar

Die Vorsitzende des Inklusionsrat von Radolfzell, Gaby Fezer, fuhr derweil liegend mit dem Fahrrad auf drei Rädern vom Rathaus zum Amtsgericht. Zuletzt kam sie dort bis zur Anmeldung in die erste Etage. Weitere Etagen blieben für sie durch das Treppenhaus versperrt. Möchte man an Verhandlungen im Amtsgericht teilnehmen, so muss man sich vorher anmelden. Bei Gesprächen und Verhandlungen in eigener Sache kann ein geeigneter Raum gefunden werden, verspricht der Internetauftritt.

Am Seitenbereich des Marktplatz senken sich die Fugen ab. Übrig bleiben herausstehende Pflastersteine, die zu Stolperfallen für ...
Am Seitenbereich des Marktplatz senken sich die Fugen ab. Übrig bleiben herausstehende Pflastersteine, die zu Stolperfallen für MS-Erkrankte werden und Rollstuhlfahrer behindern. | Bild: Georg Lange

Eines wird dabei deutlich: Menschen mit einem Handicap leiden nicht nur körperlich, sondern sie werden meist dazu genötigt, Sonderaktionen zu starten oder deutlich längere Wege auf sich zu nehmen. Zum Beispiel dauert der Weg vom Rathauseingang in das Bürgerbüro wenige Sekunden. Ein Rollstuhlfahrer muss über das Pflaster um das Rathaus fahren und den Gang, den Aufzug und wieder den Gang nehmen.

Vor dem Amtsgericht erklärte Fezer, wie gut über barrierefreie Wege informiert werden kann: Zuerst sollte überhaupt ein Schild vorhanden sein. Und wenn es vorhanden ist, sollte dieses auf Augenhöhe eines Rollatoren-Nutzers oder Rollstuhlfahrers hängen.

Situation am Bahnhof macht Probleme deutlich

Vor dem Bahnhof stand Gaby Fezer plötzlich vor einem handfesten Problem. Soll sie dutzende Male die Schablone und die Sprühkreide zücken oder nur ein einziges Mal, aber dafür in riesiger Schrift barrierefrei vor den Stufen des Bahnhofs schreiben? Fezer stieg mit sämtlicher Kraft ihrem Dreirad. Sie entschied sich für letztere Variante und sprühte Schritt um Schritt jeden einzelnen Buchstaben des Wortes barrierefrei auf den Boden. Erschöpft setzte sich Gaby Fezer nach dieser Herausforderung wieder ins Dreirad.

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Am Bahnhof begegnete den Rollatoren-Nutzern und Rollstuhlfahrern das wiederkehrende Problem sogenannter Barriere-Freiheit: überlange Wegstrecken. Möchte ein Rollstuhlfahrer vom Bahnhof zum Bodensee, so müsse er den fünffachen Weg in Kauf nehmen. Doch nicht nur das, erklärte Jutta Kesselheim: Nimmt ein Rollator-Nutzer zwischen Gleis 1 und der Bushaltestelle die Rampe, so begegnen ihm tiefe Schlaglöcher.

Und habe sie ihrem Mann zur Unterstützung helfend den Arm zum Unterhaken reichen wollen, dann habe der Platz gefehlt, um nebeneinander laufen zu können, weil Fahrräder des „Park-and-Ride“-Parkplatzes im Weg gestanden hätten.

Regen zerstört Markierungen – Hindernisse bleiben

Nur eine Stunde nach der Aktion hat der Regen die Kreidemarkierungen bereits weggespült – als hätte es den Protest nie gegeben. Nur wenige Radolfzeller sahen daher das kunterbunte Sichtbarmachen fehlender Barriere-Freiheit in Radolfzell. Doch die Hindernisse bleiben.

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