Die große Klosterzeit der Insel Reichenau im Mittelalter steht seit Jahrzehnten im Fokus von Historikern und ist entsprechend schon recht umfangreich bearbeitet. Der pensionierte Reichenauer Historiker Gert Zang ist nun seit ein paar Jahren daran, die bürgerliche Geschichte bis in die 1950er-Jahre aufzuarbeiten. Und diese beginnt für ihn logischerweise mit dem Ende des Klosters im Jahr 1757.
„Ich nenne es mal den zweiten Tod des Klosters mit der Vertreibung der Mönche. Da gibt es eine sehr drastische Schilderung“, erklärt Zang. Der erste Tod sei bereits Mitte des 16. Jahrhunderts erfolgt, als der Bischof von Konstanz die Leitung des Konvents übernommen hatte. Nun wollte das Dutzend Mönche, das es noch gab, wieder selbstständig werden, worauf der Fürstbischof eben mit deren Vertreibung reagiert habe.
Die Kuh als Gückgrat der Wirtschaft
Von Bedeutung sei dann im Jahr 1778 eine Bittschrift der Bürger an das Fürstbistum gewesen, so Zang. „Es ging um die Grundpfeiler des sozialen Systems auf der Reichenau“, erklärt er. Damals sei geplant gewesen, Wiesen und Äcker, die der Gemeinde gehören, parzellenweise an Bürger zu verteilen. Von denen seien etwa zwei Drittel arm gewesen, so Zang, und viele gar nicht in der Lage, die Flächen zu bewirtschaften.

Deshalb wollten die Bürger lieber das bisherige System beibehalten. Denn auch arme Leute hätten oft eine Kuh gehabt als Lieferant für Milch und Fett. Und diese habe man auf den Wiesen grasen lassen können, die Allgemeingut waren. „Die Kuh war sozusagen das Rückgrat der Wirtschaft“, so Zang.

Einschneidende Folgen hätten dann auch die kriegerischen Auseinandersetzungen nach der französischen Revolution gehabt zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Schon in den Koalitionskriegen sei die Reichenau besetzt gewesen von französischen Truppen. Und die Gemeinde habe für diese Lebensmitteltribut leisten müssen, so Zang, so etwa Getreide, was es auf der Insel aber kaum gab und deshalb erst gekauft werden musste. „Da sind riesen Schulden entstanden.“
Und das habe sich fortgesetzt, als unter Napoleon die Reichenau – wie andere Gemeinden – Leute und Fuhrwerke stellen sollte, um bei der Zerstörung der Festung Hohentwiel zu helfen. „Auch das hat wieder Geld gekostet.“ Wobei unter Napoleon auch Reichenauer rekrutiert worden seien, um für diesen beispielsweise in Russland zu kämpfen, das sei sozusagen die erste allgemeine Wehrpflicht gewesen. „Das war für die Reichenau sicher ein tiefer Einschnitt“, meint Zang. „Da sind viele auf dem Schlachtfeld geblieben.“
Wie der badische Staat versuchte, Kirchen loszuwerden
Parallel dazu habe die Säkularisation (1801) für den dritten Tod des Klosters gesorgt. Der Gebäudekomplex ging an den badischen Staat über. Und weil dieser dringend Geld brauchte, weil er von Napoleon ausgesaugt gewesen sei, habe er versucht, etliches zu verkaufen – und ließ manches abreißen, wie etwa die St. Adalbert-Kirche an der Oberen Ergat, zumal der Staat nun die Baupflicht hatte für die früheren Klostergebäude.
Auch ein Abriss des Münsters war mal angedacht. Dieses habe damals nur noch als Wallfahrtskirche gedient. Die Kirche der Bürger sei St. Johann gewesen, dort, wo heute der Friedhof Mittelzell ist, daneben standen die Schule (heute Areal Schlosserei Wieser) und das Pfarrhaus (heute Insel-Hof). Und ein tiefer Einschnitt sei es dann gewesen, dass die bürgerliche Kirche ins Münster transferiert wurde und St. Johann in den 1820er-Jahren abgerissen. „Aus diesem Transfer entsteht ein ellenlanger Streit, wer für den Unterhalt des Münsters zuständig ist“, so Zang. Dies wirke sich sogar bis heute aus: Es gebe keinen Alleinverantwortlichen.

Vom allgemeinen Aufschwung in Baden in den 1830er-Jahren habe dann auch die Reichenau profitiert – vor allem durch den Bau des Inseldamms. Wobei mit diesem schon in den 1820er-Jahren begonnen worden war, dann seien die Arbeiten intensiviert worden, aber erst in den 1850ern war der Bau abgeschlossen. „Das ist eine permanente Baustelle gewesen“, so Zang. Hintergrund sei ein konzeptueller Streit gewesen, frühe Konstruktionen des Damms gingen wieder kaputt.

Doch in dieser Zeit habe zugleich der Zollausschluss der Reichenau für einen weiteren tiefen Einschnitt gesorgt, erklärt der Historiker. Baden sei dem deutschen Zollverein deutscher Staaten beigetreten, die Schranken seien – ähnlich wie heute in der EU – gefallen. Doch die Reichenau habe man ausgenommen wegen der Schwierigkeit, den Bootsverkehr zu überwachen. Das habe natürlich den Schmuggel befördert.
„Auf Allensbacher Seite waren aber schon die Zoller und haben aufgepasst“, so Zang. Erst in den 1880ern sei die Reichenau ins Zollgebiet integriert worden, damals sei auch der Zollweg rund um die Insel entstanden, von dem Spaziergänger heute noch einen Teil als Uferweg begehen können.
Die badische Revolution 1848/49 habe auch auf der Insel Anhänger gehabt. „Die Reichenauer standen keineswegs geschlossen hinter dem Großherzog“, betont Zang. Die Sympathisanten hätten sich vor allem in der so genannten Bürgerwirtschaft Oberzell getroffen.
Doch als die geschlagenen Revolutionstruppen auf dem Rückzug waren, postierte sich die Bürgerwehr bei der Burg Schopflen, um flüchtende Kämpfer zurückzuhalten. Wobei diese sicher nichts auf der Reichenau selbst vorgehabt hätten, sondern von dort in gestohlenen Booten in die Schweiz hätten fliehen wollen.
Nach der Reichsgründung und dem Beginn der allgemeinen Wahlen in den 1870er-Jahren habe es dann zwei große politische Lager mit wechselnden Mehrheiten gegeben: Demokraten und Liberale auf der einen, das Zentrum auf der anderen Seite. Doch dieser Kulturkampf habe andernorts – wie etwa in Konstanz – stärker getobt als auf der Reichenau, so Zang.
Reichenauer Straßen galten Autofahrern als Achsbruch-Risiko
Um die Jahrhundertwende sei die Verkehrsentwicklung wichtiger geworden. Es habe auch erste Versuche gegeben, einen Busverkehr einzurichten, berichtet der Historiker. „Das scheitert immer wieder daran, dass die Straßen zu schlecht sind.“
Das habe sich auch auf den Fremdenverkehr ausgewirkt, für den es seit Anfang des 20. Jahrhunderts erste Ansätze gegeben habe. Denn als Feriengäste allmählich auch in Automobilen unterwegs waren, galten die Reichenauer Straßen als Achsbruch-Risiko. Doch immerhin entstand touristische Infrastruktur. Die Schiffsanlegestelle wurde ausgebaut. Das Löchnerhaus und das Hotel Seeschau wurden neu gebaut und das Gasthaus Mohren zum Hotel umgebaut.