Von ihren Sitzen sind sie längst aufgesprungen. Sie klatschen, johlen, wiegen sich von links nach rechts. Dabei sind die Blicke der 16-Jährigen auf die Bühne fixiert. Dass sie gerade von einem Pressefotografen abgelichtet werden, bekommen Klaus Hemmerle und Carlo Schultheiss nicht einmal mit. Zwei Tage später ist das Foto der beiden Freunde in der Zeitung abgebildet – neben einem Artikel, der den Auftritt der Bluesrockband Canned Heat in der Scheffelhalle beschreibt.

Von „Popjüngern, die keinen Wert auf ihr Äußeres legten“ ist in dem Text die Rede. Dem kann Carlo Schultheiss nur bedingt zustimmen. Schließlich weiß er noch genau, welches Outfit für ihn in dieser Zeit Pflichtuniform war: „Wildleder-Boots, Jeans – anfangs noch mit Schlag -, Jeansjacke oder grüner Parka, eine griechische Hirtentasche, lange Haare und eine möglichst kreative Kopfbedeckung.“ Von wegen keinen Wert aufs Äußere legen...
Und was ist mit dem Rauch, von dem es in dem Artikel heißt, dass er in den dunklen Ecken der Scheffelhalle „verdächtig süßlich“ gerochen habe? Auch das eine Fehlinformation? Nein, das stimme schon eher, meint Schultheiss. Nicht nur im Zuschauerraum dürften an jenem 2. Oktober 1976 die Joints gekreist sein. „Wir waren erst 16 und bekamen das nicht so mit.“
Der 59-Jährige erinnert sich aber daran, dass auch Canned-Heat-Sänger Bob „The Bear“ Hite dem Publikum gegenüber lobende Worte für die Substanzen fand, die er in der Pause geraucht hatte. Und: Schultheiss weiß sogar von einem etwas älteren Bekannten, der damals, als Gruppen wie Alexis Korner und Canned Heat die Scheffelhalle rockten, bekannt dafür war, die großen Namen der Szene mit dem nötigen Stoff zu versorgen.
Die Zeit der Drogen
Überhaupt seien die Siebziger die große Zeit der Drogen gewesen, blickt der 59-Jährige zurück. Heute ist er Oberstudienrat am Hegau-Gymnasium und engagiert sich in der Lehrerausbildung. Im Vergleich zu dem Zeitungsbild von damals sind die Haare kürzer. Der Vater zweier Söhne trägt Bart und Brille.
„Bei vielen hat sich das damals nicht nur auf Gras beschränkt“, erzählt Carlo Schultheiss weiter. Singener Gaststätten wie das „Sound“ seien als Umschlagplätze bekannt gewesen. „Ich erinnere mich an Jugendliche, die wegen Drogenproblemen ernsthafte gesundheitliche Probleme bekamen.“ Nicht selten, dass man montags beim Durchblättern der Zeitung von Drogentoten lesen konnte, die am Wochenende an der Singener Bahnhofstoilette aufgefunden worden waren.
Einige der Musikhelden, die Schultheiss und seine Freunde für ihr ungekünsteltes Auftreten, ihre Wut und Verzweiflung bewunderten, sollte ein ähnliches Schicksal ereilen. Auch jenem „zentnerschweren stimmgewaltigen Mann im Rasputin-Look“, Bob „The Bear“ Hite, der 1976 vom Hegauer Gras geschwärmt hatte, erging es so. Wenige Jahre nach seinem Auftritt in der Scheffelhalle starb der US-Sänger an einem Herzanfall, nachdem er Heroin geschnupft hatte. „Versehentlich“, wie Schultheiss weiß. „Er bekam das Zeug wohl nach einem Auftritt von einem Fan angedreht und dachte, es sei Koks.“
Irgendwie passen Geschichten wie diese zur Schwere der Siebziger Jahre. Den Optimismus der Hippies hatte man inzwischen beerdigt. „Wir gingen damals eher ziellos durchs Leben, wollten auch gar keine Ziele haben.“
Bloß nicht in die Tanzschule
Karrierismus sei ein Schimpfwort gewesen. Eine Karriere, das war vielleicht etwas für die Gleichaltrigen, die in der Tanzschule Vögtler Walzer tanzten. „Dafür hatten wir damals nur Verachtung übrig“, sagt Carlo Schultheiss. „Auch fühlten wir uns nicht unbedingt denen zugehörig, die sich in der Scheffelhalle die Auftritte von Status Quo und Ufo anschauten.“
Er und seine Freunde wollten lieber Gammler sein. Besser noch Freaks. So wie der Afroamerikaner Cecil Taylor, der gerne im Trainingsanzug auftrat. Schultheiss erinnert sich an Taylors Auftritt im Hegau-Gymnasium. Vor allem daran, dass der weltbekannte Jazzpianist seine Finger in irrsinnigem Tempo über die Klaviertasten jagte. „Obwohl keine elektronischen Instrumente verwendet wurden, hat man das noch bis zur Oberdorfstraße gehört – es war so extrem.“
Ein Glück für Carlo Schultheiss, dass er schon in frühen Jahren von seiner Tante musikalisch versorgt wurde, die in einem Plattenladen arbeitete. „Auch die Freunde meiner sieben Jahre älteren Schwester brachten immer tolle Musik mit.“ Platten von Bands, wie Steppenwolf oder Sängerinnen, wie Aretha Franklin und Janis Joplin. Im Fernsehen schaute sich der junge Carlo bei Freunden, deren Eltern ein Fernsehgerät besaßen, den Beatclub an. Gebannt saß er später vor dem Radio, wenn SWF-Musikexperte Manfred Miller alte Bluestexte ins Deutsche übersetzte.
Der „Rothaus-Blues“
Entsprechend inspiriert, begann Carlo Schultheiss statt der Etüden und der blutrünstigen Jagdlieder, die sonst im Klavierunterricht von ihm verlangt wurden, die Musik seiner neuen Helden nachzuspielen. Und: Er brachte sich die Blues Harp, die vor allem im Blues verwendete diatonische Mundharmonika, bei. Das war cool. Und im Hegau ein echtes Novum.
Schließlich schafft es der Autodidakt sogar selbst auf die Bühnenbretter. Mit seiner Harp durfte Schultheiss Bands begleiten, die an Fasnacht in der Scheffelhalle für Unterhaltung sorgten. „Als wir den ‚Roadhouse Blues‘ von den Doors spielten, hab‘ ich mich gewundert, warum die Biertrinker hinten an der Bar so begeistert johlen“, sagt er und lacht. „Sie haben das Lied wohl eher als ‚Rothaus-Blues‘ interpretiert.“ Carlo Schultheiss umgab sich lieber mit seinen blues- und jazzbegeisterten Freunden. Einen Abend mit Live-Musik im „Bunsenbrenner“ zogen sie jedem Saufgelage vor.
Färbe und Gems
Zum Ausklang der Siebziger dann noch einmal ein echter Höhepunkt für den damals gerade Volljährigen: „Zusammen mit zwei Freunden haben wir uns für 500 Mark eine Isetta gekauft. Die wurde dann demonstrativ auf dem Lehrerparkplatz abgestellt.“ Ebenfalls prägend für Singens junge Revoluzzer war das Jahr 1978, als Gems und Färbe beinahe zeitgleich eröffneten.
Wie prägend? Erst im vergangenen Jahr nahm Carlo Schultheiss mit seiner Band Blossbluez und der amerikanischen Blueslegende Guitar Crusher ein Live-Album in der Singener Färbe auf. Präsentiert wurde diese CD einige Monate später bei einem Konzert in der Gems. An beiden Tagen stand Carlo Schultheiss mit dem gleichen wohlig-leidenden Gesichtsausdruck hinter seiner Hammond-Orgel, der damals schon Canned-Heat-Frontmann Bob „The Bear“ Hite so gut zu Gesicht stand. An jenem Oktoberabend, als die Scheffelhalle verdächtig süßlich roch...