Prozesse wegen Körperverletzung gibt es – leider – viele. Doch dieses Verfahren war in fast jeder Hinsicht außergewöhnlich. Denn einerseits wurde nun vor dem Singener Amtsgericht gewissermaßen die Vorgeschichte zur Singener Messerattacke vom Dezember 2020 verhandelt.
Dafür hatte das Gericht strenge Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Wer aus dem Sichtfeld der Wachtmeister ging, musste sich vor dem Betreten des Gerichtssaals erneut einer Sicherheitskontrolle unterziehen – einschließlich Abtastung. Persönliche Gegenstände mussten in ein Schließfach wandern. Und auf dem Gelände des Amtsgerichts waren zahlreiche Sicherheitskräfte anwesend.
Vor Gericht stand der Mann, der am 14. Dezember 2020 lebensgefährlich verletzt wurde, Mizr A. Er betrat und verließ das Gebäude als freier Mann, auch wenn er am Ende eine Bewährungsstrafe kassierte. Der Nebenkläger Said E. hingegen, der in diesem Verfahren als Opfer auftrat, wurde von Justizbeamten in Hand- und Fußfesseln vorgeführt – eine Konstellation, die nicht alltäglich ist, die sich aber aus der Vorgeschichte erklärt.
Der Nebenkläger sitzt aktuell in Haft
Denn der Nebenkläger wurde im Dezember 2021 vor dem Landgericht Konstanz zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Das Gericht sah es damals als erwiesen an, dass er Familienmitglieder zu einer gefährlichen Körperverletzung, eben der Messerattacke vom Friedrich-Ebert-Platz, angestiftet habe. Derzeit sitzt er im Konstanzer Gefängnis ein. Er wurde im Verfahren von zwei prominenten Strafverteidigern vertreten, Gerhard Zahner und Björn Bilidt.
Konflikt zwischen verfeindeten Familien
Was war nun geschehen, dass die beiden Männer ihre Rollen vor dem Singener Amtsgericht praktisch getauscht haben? Verhandelt wurde ein Vorfall vom 5. Dezember 2020, einem Samstag, wenige Tage vor der Messerattacke am Friedrich-Ebert-Platz, die überregional Aufsehen erregte.
Der Vorwurf: Mizr A. soll am Abend dieses Tages gemeinsam mit anderen Said E. zusammengeschlagen haben. Laut der Anklage, die Staatsanwalt Karol Thalheimer verlas, seien die Männer dafür von hinten an Said E. herangetreten. Der Geschädigte sei bei der Prügelei zu Boden gegangen, die Angreifer hätten aber weiter auf ihn eingeschlagen. Er habe daher unter anderem einen Nasenbeinbruch und mehrere Prellungen erlitten. Der Vorwurf lautete gefährliche Körperverletzung.
Dieser Vorfall gehört zu einem sich aufschaukelnden Konflikt zwischen zwei Großfamilien syrischen Ursprungs, wie ein Polizist als Zeuge aussagte, der seit mehreren Jahren mit den Streitigkeiten vertraut ist. Es habe immer wieder wechselseitige Anzeigen zwischen Angehörigen der beiden Familien gegeben. Die Polizei sei sensibilisiert gewesen, erklärte der Beamte im Zeugenstand.
Den Vorfall vom 5. Dezember 2020 habe er am darauffolgenden Montag auf den Tisch bekommen. Er habe beide Parteien vernommen, den mutmaßlichen Täter vom 5. Dezember, Mizr A., am 14. Dezember. Nach dieser Vernehmung sei es laut dem Polizisten zu der folgenschweren lebensgefährlichen Körperverletzung am Friedrich-Ebert-Platz gekommen, die weit über die Grenzen der Stadt hinaus für Aufsehen sorgte und ein mehrtägiges Verfahren vor dem Konstanzer Landgericht gegen acht Personen nach sich zog.
Der Angeklagte machte zunächst zwar keine Angaben zur Person oder den Ereignissen vom 5. Dezember. Sein Verteidiger wies die Vorwürfe allerdings zunächst zurück in einer Einlassung, die er für seinen Mandanten vortrug.
Es habe sich um Notwehr gehandelt, so der Verteidiger. Die Angaben in der Anklageschrift seien nicht korrekt. Said E. sei nämlich sofort auf seinen Mandanten losgegangen. Die Familie E. habe seinen Mandanten zum Feindbild erklärt, so der Verteidiger.
Zeugen zeichnen ein anderes Bild
Zwei Gemüsehändler, bei denen Said E. an dem fraglichen Abend tatsächlich einkaufen wollten, zeichneten indes ein anderes Bild. Sie seien mit ihrem Lastwagen regelmäßig in der Region unterwegs, um Restaurants mit Gemüse zu beliefern. Wenn sie Zeit hätten, dürften auch normale Verbraucher bei ihnen kistenweise das Gemüse kaufen.
So sei am fraglichen Abend auch ein Mann – gemeint ist Said E. – bei ihnen vorbeigekommen. Er habe sein Geld, das er nicht bei sich hatte, aus dem Auto holen wollen, um den Einkauf zu bezahlen. Während Said E. dafür unterwegs war, seien sie auf die Schlägerei aufmerksam geworden, sagten die beiden Brüder unabhängig voneinander. Drei Personen hätten auf den am Boden liegenden Said E. eingeschlagen. Sie hätten Angst gehabt, dass er stirbt, und deswegen die Angreifer weggezogen. Diese seien dann geflüchtet.
Said E. stellte den Vorfall in seiner Zeugenaussage unabhängig von den anderen Aussagen ähnlich dar. Als er am Auto stand, um das Geld für den Einkauf zu holen, sei er von hinten angegriffen worden. Er berichtete, dass er zweimal zu Boden gegangen sei und dass mehrere Menschen auf ihn eingeschlagen hätten. Zeitweise habe er wegen der Verletzungen nur trinken können und nehme immer noch Schmerzmittel.
Mit E.s Angaben zur Zahl der Angreifer zeigte sich Mizr A.s Verteidiger allerdings nicht zufrieden – und strapazierte damit und mit mehreren anderen Scharmützeln die Geduld von Richterin Krack, Staatsanwalt Thalheimer und der Nebenklagevertreter. Für die Würdigung des Geschehens war dieser Punkt aber letztlich unerheblich.
Richterin folgt den Argumenten der Nebenklage
Schließlich entschlossen sich Mizr A. und sein Anwalt doch zu einer Kursänderung. Es habe eine Verständigung gegeben, verkündete der Verteidiger nach einer Pause. Sein Mandant werde gestehen, sich entschuldigen und 1000 Euro im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs an Said E. zahlen.
Dies werteten Staatsanwalt und Richterin als positiv für den Angeklagten. Staatsanwalt Thalheimer brachte daraufhin sogar eine Geldstrafe für Mizr A. ins Spiel. Nebenklagevertreter Zahner plädierte hingegen für eine Freiheitsstrafe auf Bewährung – als Sicherheit, dass der Angeklagte sich nicht mehr zu Schulden kommen lasse, denn in einem solchen Fall kann die Bewährung rasch verwirkt sein. Und als Zeichen des Rechtsstaats.
A.s Verteidiger brachte auch die lebensgefährlichen Verletzungen seines Mandanten ins Spiel und betonte, beide Männer hätten „Bockmist gebaut“. Letztlich äußerten alle Beteiligten, sie wollten nur Frieden zwischen den Familien.
Richterin Krack folgte der Argumentation der Nebenklage: „Diese Form der körperlichen Auseinandersetzung wird nicht toleriert.“ Sie verhängte eine Freiheitsstrafe von vier Monaten, die sie für drei Jahre zur Bewährung aussetzte. Außerdem muss der Angeklagte eine Geldauflage von 1000 Euro und die Kosten des Verfahrens tragen. Beide Parteien können Rechtsmittel gegen das Urteil einlegen.