Sobald ich morgens aufwache, ist er da: Der Nebel. Er kommt, wenn die Tage kürzer werden und der Oktober mit seinem schummrigen Licht an die Tür klopft. Beim ersten Tritt aus der Haustür Richtung Arbeit umschlingt er mich. Radfahrer müssen sich auf dem Weg zur Arbeit wie Helden der griechischen Mythologie fühlen, die durch unübersichtliche Lande fahren und dabei die entlegenen Sphinxe und Rätsel der Straßen meistern. Für viele Menschen mag er nur ein meteorologisches Phänomen sein, für die Bewohner der Bodensee-Region jedoch ein vertrauter Begleiter.

Ein Begleiter auch für mich auf dem Weg zur Arbeit. Die Konstanzer Straßen sind prall gefüllt mit Nebel, durch den sich mein Auto presst. Der Bahnhof Wollmatingen ist in der Ferne nur durch die blinkenden Bahnleuchten zu erkennen. Auch der Zug scheint auf magische Art und Weise abfahrbereit am Gleis aufzutauchen. Plötzlich ist er da. Auf der Strecke nach Radolfzell legt der Nebel seinen eisernen Mantel teilweise ab und lässt es mir zu, einen kurzen Blick auf den See zu erhaschen. Überall zeigt er seine verschiedenen Facetten. Man könnte fast meinen, er hat seine eigenen Vorlieben und Macken.

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Mystischer Weggefährte

In Radolfzell verschlingt der Nebel mich mit samt dem Zug wieder. Hier zeigt er sich von seiner charmant mystischen Seite. Er liebt es hier, sich in den Morgenstunden kunstvoll um die Fachwerkhäuser und über die Uferpromenade zu legen. Der Nebel umhüllt die Menschen wie eine sanfte Umarmung und schenkt der Stadt eine fast romantische Atmosphäre. Selbst die Stoßstange des alten Opel Corsa an der Ecke bekommt plötzlich eine geheimnisvolle Aura. Man könnte fast meinen, Radolfzell würden den Nebel bewusst einladen, um der Stadt einen Hauch von Mystik zu verleihen.

Dichte Nebelschwaden über dem Untersee, langsam zieht sich der Nebel zurück und legt Radolfzell frei. (Archivbild)
Dichte Nebelschwaden über dem Untersee, langsam zieht sich der Nebel zurück und legt Radolfzell frei. (Archivbild) | Bild: Buchholz, Michael

Doch schon geht die Zugfahrt weiter, als würde der Zug vor dem Nebel entfliehen wollen. Der Weg führt aber nur weiter durch die Nebelmassen. Auf der Strecke nach Singen zeigt er eine weite Facette von sich. Wenn ich aus dem Zugfenster schaue, ist die Stille draußen zwischen den hohen Bäumen, Nebel und den Gleisen fast spürbar. Einzig das Geräusch von Stahl auf Stahl bricht die Stille.

Ein launischer Kollege

Und plötzlich steht man im Bahnhof Singen, wie aus dem Nichts ist er da und der Zug hält. Endstation. Die Eingangstore zu Maggi und Fondium sind gerade so noch erkennbar. Die Dächer von Cano und Karstadt scheinen jedoch unendlich hinauf in den Himmel zu ragen. Doch noch während meines Wegs in die Redaktion beginnt sich der Nebel leicht zu lichten. Auch die Ruine auf dem Hohentwiel entflieht bereits aus dem Nebel. In Singen denkt sich der Nebel anscheinend: Wozu all die Dramatik? Hier legt er sich morgens flach und breit über die Stadt und den Hohentwiel, als wolle er sagen: „Ich bin da, aber lasst euch nicht stören. Ich bin gleich wieder weg.“

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Der Nebel ist hier wie ein launischer Kollege: Er bleibt nie lange, tut aber auch nie wirklich etwas Aufregendes. Bevor man sich versieht, löst er sich auf, meistens noch vor dem zweiten Kaffee.