Immer und immer wieder soll das Opfer erzählen, was am 14. Dezember 2020 in Singen passiert ist. Doch davon hat Mizr A. genug: Gleich zu Beginn des vierten Verhandlungstages in Stuttgart-Stammheim lässt er erklären, dass er nicht mehr alle Fragen zur Messerattacke beantworten möchte. Zu verletzend, zu beschämend, und auch zu wiederholend seien diese. Eine Woche zuvor wurde er fast drei Stunden lang ausgefragt. Das Problem: Er kann sich als Zeuge nicht aussuchen, was er beantworten möchte. Das erklärte ihm auch Oberstaatsanwalt Ulrich Gerlach. Und: Für das Hauptopfer, das auch als Nebenkläger am Prozess teilnimmt, ging schon die Frage zu weit, ob jemand sein Neffe ist. Deshalb wurde teils mehr über die Zulässigkeit von Fragen diskutiert, als dass diese beantwortet wurden.

Dennoch zeigten sich an diesem Prozesstag besonders die blutigen Spuren der Fehde zweier syrischer Großfamilien und einige Hintergründe.

Rundumschlag empört die Verteidiger

Der Tag begann mit einem Eklat: Die Verteidiger würden ihn behandeln wie einen „blöden Ausländer“. Die Angeklagten hätten bis heute keine Wiedergutmachung angeboten. Und das Gericht habe ihn als Zeugen im Stich gelassen, weil es ihn nicht vor Unterstellungen geschützt habe. Das teilte Mizr A. in einer Erklärung mit, die sein Anwalt vorlas. Es sei absurd zu glauben, dass er sich selbst verletzt habe, wie es teils behauptet wurde.

Dabei habe er die blutige Botschaft verstanden: „Es war ein Tag der Gewalt, um mich zu ermorden, wie es mir mehrfach angedroht wurde“, fasste er zusammen. Während sein Anwalt vorlas, ließ er immer wieder eine Gebetskette durch seine Finger gleiten. Tränen standen ihm in den Augen.

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Beide Familien bräuchten Frieden, daher wünsche er sich eine Verständigung. Bei den 15 Anwälten, welche die acht Angeklagten vertreten, kam dieser Wunsch zwar an – aber auch die Kritik.

Welche Fragen muss man beantworten – und welche nicht?

Eine Unverschämtheit (Gerhard Zahner), eine unrechtmäßige Forderung (Nicolas Doubleday) und „massive Vorwürfe“ (Torsten-Rolf Kießig) nannten die Anwälte die Erklärung. Kießig merkte an, dass eine Verteidigung nunmal Fragen stellen müsse. Seine Frage nach der Verwandtschaft war dann die erste, welche laut Nebenklage-Vertreter zu allgemein und „bösartig“ sei. Nach mehreren Ansätzen wurde klar: Verwandt sind die verfeindeten Großfamilien wenn überhaupt nur entfernt. Aber ein Neffe von Mizr A. wurde tatsächlich wegen terroristischer Aktivitäten verurteilt.

Der Familienwagen war nach der Messerattacke von Blutspuren gezeichnet.
Der Familienwagen war nach der Messerattacke von Blutspuren gezeichnet.

Es geht um ein Motiv für den Messerangriff – dabei wurde bislang gegen Angehörigen der angeklagten Familie wegen Kontakts zum Islamischen Staat ermittelt. Es geht auch um die Glaubwürdigkeit von Mizr A. und um die entscheidende Frage, ob er getötet werden sollte oder ob die Angeklagten seinen Tod nur billigend in Kauf nahmen. Die Angeklagten werden des versuchten Totschlags beschuldigt, dafür drohen bis zu 15 Jahre Haft. Das Opfer beteuerte aber, den Neffen seit dessen Kindheit nicht gesehen und das Verfahren nicht verfolgt oder gar beeinflusst zu haben.

Entscheidende Frage lautet: Wollten die Angeklagten töten oder nicht?

Nicht nur das Hauptopfer Mizr A. schilderte, wie er den 14. Dezember 2020 erlebt hat. Auch der Onkel seiner Frau und dessen Sohn waren im Auto, als es am Friedrich-Ebert-Platz in Singen stoppte. Männer, die er zuvor nur vom Sehen kannte, hätten sie geschlagen und ihm die Hand gebrochen, schilderte der Onkel. „Sie haben gesagt, dass sie uns schlachten werden.“

Ob das arabische Wort für schlachten mehrdeutig sei, wollte Anwalt Gerhard Zahner von den vier Dolmetschern wissen. Die schüttelten erst den Kopf, doch dann ordnete einer ein: In Verbindung mit dem Wort schlagen könne es auch eine Steigerung des Schlagens sein. Für das Verb töten gebe es einen eigenen Begriff.

Das dritte Opfer schilderte aber, dass die Angeklagten auch von töten gesprochen hätten. An diesem Prozesstag gab es kurze Entschuldigungen: Jehad E. entschuldigte sich beim Vater. Mohammad A. entschuldigte sich für Tritte beim Sohn. Der lächelte nur etwas unbeholfen.

Ein Polizist ist Ansprechpartner für beide Seiten

Der ermittelnde Polizist, der seit Jahren in Kontakt mit den verfeindeten Familien ist, brachte etwas Licht in die möglichen Hintergründe. Ein Angriff sei spätestens seit November zu befürchten gewesen, denn da hätte die Familie, deren Angehörige nun angeklagt sind, erfahren, dass Mizr A. zu Ermittlungen beigetragen habe. Dabei geht es um Verbindungen zum sogenannten Islamischen Staat. War der Messerangriff also Rache oder Selbstjustiz?

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Schon am 5. Dezember gab es eine Auseinandersetzung

Für Anwalt Günter Manogg ist klar: „Es ist nicht vorstellbar, dass es den 14. ohne den 5. Dezember. gegeben hätte.“ Denn einige Tage vor der Tat soll Mizr A. einen Angehörigen der verfeindeten Großfamilie attackiert haben. Verhandelt wird dieser Fall aber erst nach dem aktuellen Prozess in Stammheim. Der vorsitzende Richter Joachim Dospil hält das für nicht relevant: Was am 5. Dezember geschehen sei, könne den Messerangriff nicht rechtfertigen.

Was bisher geschah

Der erste Verhandlungstag brachte Einblicke in die Großfamilie.

Schlagen oder töten? Um Übersetzungen und die Videos ging es an Tag 2.

Das Hauptopfer schilderte die Geschehnisse an Tag 3.

Videos zeigen Momente der Tat. Auf den Aufnahmen erkannte ein Zeuge seine Verwandten.
Videos zeigen Momente der Tat. Auf den Aufnahmen erkannte ein Zeuge seine Verwandten. | Bild: Screenshot

Verwandter erkannte seine Angehörigen auf Tat-Videos

Ein anderer Zeuge, der mit beiden Familien verwandt ist, warnte in seiner Aussage: „Keiner sagt die richtige Wahrheit.“ Es gehe bei dem langjährigen Konflikt um Frauen und Beleidigungen in sozialen Netzwerken. Doch er wisse nicht, was konkret der Auslöser war. Was er laut eigener Aussage aber weiß: Dass die Angeklagten auf Videos der Tat zu sehen sind. Einer davon sei sein Cousin Ibrahim A. – zu sehen in einer gelben Jacke auf der Fahrerseite, wie er immer wieder Mizr A. schlägt und ihn am Ende mit blutendem Gesicht zurücklässt.

Sie seien gemeinsam in Syrien aufgewachsen, damals sei der heute 25 Jahre alte Angeklagte noch ganz anders gewesen. „Er war friedlich und hat nie Ärger gemacht.“ Jetzt beschäftigt der Ärger die Justiz.

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