Zwei Wunder in einer Nacht. Ein heute 36 Jahre alter Mann war mit geschätzt fünf Promille Alkohol im Blut noch in der Lage, seinen Freund mit einem Messer am Hals zu verletzen. Dieses Wunder führte den Täter nur wenige Stunden später ins Gefängnis, wo er bis zur Verhandlung vor wenigen Tagen blieb. Das andere Wunder war, dass der Geschädigte mit aufgeschnittener Kehle, einer Stichverletzung und rund zwei Promille Alkohol im Blut noch selbst ins Singener Krankenhaus fahren konnte. Und dass er überlebte und nach nur einer Woche Krankschreibung wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte.
Verwunderlich hingegen waren die verschiedenen Schilderungen von Angeklagten und Geschädigtem vor Gericht.
Heimtückisch von hinten angegriffen?
Restlos geklärt werden konnten die Tatumstände nämlich nicht. In der Nacht vom 3. auf den 4. August 2019 kam es in der Wohnung des Geschädigten in Singen zum Streit – laut Angeklagtem nach Unstimmigkeiten beim Konsolenspiel, laut Geschädigtem unvermittelt kurz nach dem Eintreten des Angeklagten. Dabei griff der 36-Jährige nach einem Messer. Die Anklage ging davon aus, dass die Tat von hinten geschah, also heimtückisch. Deshalb war der Mann wegen versuchten Mordes angeklagt.
Doch Aussagen von Angeklagtem, Geschädigtem und Rechtsmediziner konnten das nicht sicher bestätigen, auch ein Schnitt von vorne war denkbar.
War Eifersucht das Motiv? Nicht wenn es nach der Partnerin geht
Auch das Motiv blieb unklar: Staatsanwalt Ulrich Gerlach vermutete Eifersucht, doch das sei laut vorsitzendem Richter Arno Hornstein spekulativ. Auch die Vernehmung der Partnerin des Angeklagten konnte das nicht bestätigen: „Ich bin keine 16 mehr und habe mich entschieden“, sagte die Betroffene und verließ das Gericht nicht, ohne ihren Freund zu umarmen – Coronavirus und Kontaktsperre hin oder her.
Wenige Zentimeter zwischen Leben und Tod
Das Ergebnis der Tat war unzweifelhaft: 15 Zentimeter lang war die Wunde am Hals, sie reichte beinahe vom einen bis zum anderen Ohr. „Diese Tat brauchte viel Kraft“, sagte Markus Große Perdekamp, Oberarzt am Institut für Rechtsmedizin in Freiburg. Das Opfer schwebte zwar nicht in Lebensgefahr, doch ohne Weiteres hätten lebenswichtige Strukturen verletzt werden können. Wenn der schwer alkoholisierte Täter eine benachbarte Arterie verletzt hätte, wäre das schnell tödlich: Wegen raschen Blutverlusts verliere ein Opfer dann nach wenigen Minuten das Bewusstsein.
Dem Opfer werde eine Narbe bleiben. Der 31 Jahre alte Geschädigte selbst sagte, er habe das Vertrauen in die Menschen verloren.
Der Angeklagte zeigte nicht viel Regung, während das Landgericht mit drei Richtern und zwei Schöpfen insgesamt sieben Zeugen und zwei Sachverständige hörte. Vielleicht verstand der 36-Jährige nicht jedes Wort: Er ist im europäischen Ausland aufgewachsen und lebt seit sieben Jahren im Hegau. Er spricht zwar spricht nicht fließend Deutsch, verzichtet bei vielen Aussagen aber auf eine Dolmetscherin. Bei einigen Schilderungen schüttelte er aber energisch den Kopf: Die Meinung des Staatsanwalts, dass er das Tatmesser mitbrachte, teilte er nicht.
Bei seinem Opfer entschuldigte sich der Mann: „Wenn wir nicht betrunken gewesen wären, wäre es gar nicht so weit gekommen. Es tut mir leid.“ Diese Entschuldigung nahm der Geschädigte zustimmend an. Die beiden haben regelmäßig miteinander getrunken, der Angeklagte wurde auch von einem Sachverständigen als Alkoholiker bezeichnet.
Gericht tut sich schwer mit Einschätzung des Geschehens
„Diese Konstellation in dieser Form ist uns auch noch nicht untergekommen“, sagte der vorsitzende Richter Arno Hornstein. Die Urteilsfindung sei schwierig gewesen, weil die Aussagen von Angeklagtem und Opfer unbeständig waren. „Wir haben viele Möglichkeiten, wenige Fakten.“ Das Gericht sei wegen der Alkoholisierung davon ausgegangen, dass der Angeklagte schuld- und steuerungsunfähig war. Für den Angeklagten spreche, dass er ein recht stetes Leben habe: Der Bauarbeiter war immer berufstätig und bemühe sich, Unterhalt für seine Tochter zu zahlen. „Aber es war eine brutale Aktion und höchstes Glück, dass der Geschädigte überlebt hat.“
Was die Therapie bedeutet
Angeklagt war der 36 Jahre alte Mann wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung, verurteilt wurde er wegen vorsätzlichen Vollrauschs zu drei Jahren Haft. Es wurde die Unterbringung in einer Entzugsanstalt angeordnet. Nach erfolgreicher Therapie könnte sein Mandant dann früher entlassen werden, schildert Anwalt Matthias Biskupek. Wenn der Verurteilte die Therapie abbricht, müsse er allerdings zurück ins Gefängnis. Das Urteil ist rechtskräftig.