Frau Mächler, seit September 2024 leiten Sie als Theaterpädagogin die Theatergruppe Theatäter, eine Singener Kooperation zwischen dem Friedrich-Wöhler-Gymnasium und dem Kulturzentrum Gems.

Cordula Mächler: Ja, die Altersgruppe der Elf- bis 13-Jährigen ist für mich neu. Zuvor habe ich lange Zeit mit 15- bis 23-Jährigen gearbeitet, mit dem Jugendclub des Kulturzentrums Gems. Wir haben dabei vorwiegend sozialkritische Stücke erarbeitet, unter anderem zu Themen wie Handysucht oder Cybermobbing.

Für diese Arbeit erhielten Sie 2023 den Kulturpreis der Stadt Singen.

Cordula Mächler: Ja, das war sehr bewegend. Eine ehemalige Schauspielerin hat eine wunderbare Laudatio gehalten. Zu hören und zu spüren, was ich diesen Jugendlichen durch die theaterpädagogische Arbeit habe mitgeben können, hat mich sehr erfüllt.

Ist die Herangehensweise mit jüngeren Teilnehmenden eine andere?

Cordula Mächler: Nein, im Grunde geht es immer darum, Raum zu schaffen für den Menschen und die Gruppe, die da vor mir steht. Gemeinsam die Grenze des Peinlichen immer ein Stück zu verschieben, Mut zu finden, aus sich herauskommen oder Szenen und Themen finden, die die Teilnehmenden wirklich berühren. Ich gebe dabei Freiheit wie auch Sicherheit, um eine gute Theaterproduktion zu bekommen. Wichtig ist: Jeder und jede hat das Recht, nein zu sagen. Immer. Ich zwinge niemanden zu seiner Szene oder einer Rolle, so lernen die Kinder: auf meine Stimme kommt es an!

Nach einem Jahr Probearbeit, stehen Sie nun in den Startlöchern für die Premiere, die am 5. Juli dieses Jahres in der Singener Gems stattfindet.

Cordula Mächler: Es ist ein fantasievolles und bildreiches Werk geworden. Wir haben es ‚Der letzte Schrei‘ genannt. Es spielt in einem Kunstmuseum. Das berühmte Bild ‚Der Schrei‘ von Munch wird gestohlen, was das Museum in eine finanziell schwierige Situation bringt. Zunächst streiten sich die Bilder, welche Bedeutung sie selbst haben, und darüber, ob es der Maler, der Marktwert oder die abgebildete Person ist, die es besonders macht. Während die Bilder bei Tag stillsitzen, spielen sich im Museum kleine Geschichten zwischen den Besuchern und dem Personal ab. Erst bei Nacht werden die Bilder lebendig und erzählen ihre eigenen Geschichten. Es ist dann eigentlich ein Märchen geworden.

Was tun Sie, um die Kinder aus der Reserve zu locken?

Cordula Mächler: Zunächst steht für mich die Gruppenbildung im Fokus. In Spielen und mit Übungen zu Körper, Stimme und Bewegung schaffen wir ein Arbeitsklima, in dem sich alle wohlfühlen und sich trauen, aus sich heraus zu kommen. Die Bilderrollen wurden so erarbeitet, dass die Kinder eine große Auswahl an Kunstwerken bekamen und sich damit optisch und inhaltlich auseinandersetzten. Es entstanden Improvisationen, um daraus Figuren zu entwickeln. Es galt, die Geschichte der abgebildeten Figur zu erzählen. So beschäftigten sich die Schülerinnen und Schüler über Monate mit Malern und Kunstwerken verschiedenster Epochen – und schließlich hat jede und jeder für sich ‚ihr‘ oder ‚sein‘ Bild gefunden und die Rolle, in der sich jede und jeder wohlfühlt.

Das heißt, es gibt kein Drehbuch?

Cordula Mächler: Ich gebe den Kindern einen Rahmen, innerhalb dessen sie eine Szene improvisieren. Wir feilen gemeinsam daran, ich fixiere den Text zuhause und gebe ihn ihnen wieder. Das hat den großen Vorteil, dass die Akteure nicht viel Fremdtext auswendig lernen müssen. Sie wiederholen lediglich, was sie bereits selbst gesagt haben. Dadurch erscheint der Text oft weniger aufgesetzt und gleichzeitig ist das Stück nicht zu textlastig. Ein weiterer Vorteil ist: Bis zum Schluss kann das Stück verändert werden – manches wird wieder verworfen. Auf diese Weise erleben die Teilnehmenden Selbstwirksamkeit. Theaterpädagogisches Arbeiten ist immer ein kreativer Schaffensprozess der ganzen Gruppe und das Endprodukt ist somit ein Gemeinschaftswerk, ein Mosaik.

Welche Charaktere, welche Rollen wurden erschaffen?

Cordula Mächler: Es gibt zehn Portraits, die in den Rahmen sitzen. Andy Warhols Marilyn Monroe und da Vincis Mona Lisa sind ja weithin bekannt, aber es gibt auch unbekanntere Bilder wie Sylvia von Harden, gemalt von Otto Dix, oder die Eugenia von Gustav Klimt. Es war faszinierend zu sehen, wie sich die Schülerinnen und Schüler ihrer Rolle näherten und schließlich identifizierten. Welche Eigenschaft sie dann herausarbeiten, steht ihnen völlig frei. Ich habe inzwischen das Gefühl, diese berühmten Abbildungen persönlich zu kennen.

Wie schaffen Sie es, dass 22 Mitspielende ihre eigene Rolle finden?

Cordula Mächler: Mir war schnell klar, dass wir zwei Gruppen haben werden: die der Bilder und die der Besucher und Angestellten. Wir haben auch immer wieder getrennt gearbeitet, das war dank meiner Kollegin Nicola Fritsch, die sehr viel Theaterarbeit an der Schule macht, machbar. Und so entstanden viele weitere Rollen und kurze Szenen, in denen die Kinder wunderbare Dialoge geschaffen haben. Solche könnte ich niemals erfinden!

Es gibt keine Hauptrollen?

Cordula Mächler: Das stimmt, und das ist für mich auch das Wichtigste: Dass alle gleichberechtigt auf der Bühne stehen und jeder Spieler mindestens einen großen Moment hat. Die Akteure fühlen sich mitgenommen, und belohnen das mit großem Engagement und Mitdenken. Alle wissen immer, worum es gerade geht und denken logisch im Sinn des Stückes mit. Sie glauben ja gar nicht, wie genau die sein können, wenn sie das Gefühl haben, etwas ist unlogisch für ihre Rolle. Und sie haben eigentlich immer recht.

Was ist das Alleinstellungsmerkmal der Theatäter?

Cordula Mächler: Das Friedrich-Wöhler-Gymnasium steht sehr hinter diesem Projekt, die Theaterarbeit wird dort sehr geschätzt. Die Schülerinnen und Schüler verpflichten sich, regelmäßig und zuverlässig zu den Proben zu kommen, und darauf wird seitens der Schule auch gut geachtet. Durch die Kooperation mit dem Kulturzentrum Gems ist die ganze Theaterproduktion professionell.

Ich bin als freischaffende Theaterpädagogin extern für das Projekt engagiert und arbeite viel mit Musik, Bewegung und Tanz. Das Bühnenbild wurde in der Schreinerei des Berufsschulzentrums Radolfzell gebaut. Wenn der Techniker der Gems, Andi Thomann, das am Ende alles in gutes Licht setzt, dann macht das schon was her. Und für die Kostüme konnten wir die in Radolfzell lebende Gewandmeisterin Ursula Plaga mit ins Boot holen, die schon an großen Spielstätten wie dem Theater Ulm gearbeitet hat. Diese Kooperation, bestehend aus großem schulischem Engagement und kulturellem Know-how macht die Theatäter zu einer ganz besonderen Schultheatergruppe.

Fragen: Nicola Reimer