Gut zu Fuß und somit unabhängig von anderen zu sein, ist für viele Menschen alltäglich, bis es das nicht mehr ist. Wenn diese Mobilität durch einen Unfall oder eine Krankheit verloren geht, zeigt sich, wie beschwerlich das Vorankommen sein kann. Melanie Orozco-Möhl aus Steißlingen absolviert ein freiwilliges soziales Jahr an der Haldenwang-Schule in Singen und wagte einen 36-stündigen Selbstversuch im Rollstuhl, um sich besser in die Schüler hineinversetzen zu können. Viele der Kinder sind aufgrund ihrer Behinderungen und geistigen oder motorischen Einschränkungen auf einen Rollstuhl angewiesen. Danach sagt sie: Die körperliche Barriere habe merklich ihr Denken verändert.
In einem Seminar zum Thema „Unsichtbare Barrieren“ durften die FSJler verschiedene Einschränkungen testen: Für eine Stunde testeten die Freiwilligen eine Blindenmaske in der Stadt, lernten Neurodivergenzen durch Überstimulation kennen und bewegten sich mit dem Rollstuhl fort. Melanie Orozco-Möhl arbeitet seit September 2023 an der Schule und erzählt dem SÜDKURIER, dass eine Stunde im Zuge des Seminars kaum ausreichend sei, um sich in die Thematik einfühlen zu können. So beschloss sie als Selbstversuch, 36 Stunden mit dem Rollstuhl als Fortbewegungsmittel zu verbringen.
„Ich hatte es mir bei Weitem nicht so anstrengend vorgestellt“, sagt die 19-Jährige, die nach dem ersten Tag einen schlimmen Muskelkater gehabt habe. Zwar sei es am zweiten Tag schon besser gegangen, jedoch brauche alles, was man mache, viel mehr Energie und mehr Zeit. Dabei habe sie einige Wege oder Tätigkeiten vermieden, weil sie zu anstrengend gewesen wären. An den Abenden sei der Wunsch nach sozialer Interaktion gleich null gewesen.
Viele Hürden im Alltag sind eine Herausforderung
Der Selbstversuch startete an einem Morgen um 9 Uhr bis zum darauffolgenden Tag um 22 Uhr. Er beinhaltete das Schlafengehen im Rollstuhl, das Umziehen, den Toilettengang, mehrere Busfahrten, Minigolfspielen und Umherfahren in Ludwigshafen, Überlingen und Radolfzell. Dabei wurde ihr bewusst, wie schwer der Alltag sein kann, erklärt Orozco-Möhl: „Fakt ist – die Welt ist nicht für Rollstuhlfahrer gemacht.“

Wenn man aber die Barrieren für Rollstuhlfahrer Stück für Stück beseitigen würde, würde es auch Menschen mit Kinderwägen, Fahrradfahrern und Menschen mit Gleichgewichtsstörungen helfen, sagt die junge Frau.
Viele Kleinigkeiten seien ihr aufgefallen. Zum Beispiel seien fast überall die Gehwege in Richtung Straße geneigt: „Jedes Mal, wenn ich die Räder losgelassen habe, bin ich in Richtung Straße gefahren. Durch die Schräglage ist eine Hand viel stärker ausgelastet als die andere. Und die Neigung in Richtung des vorbeifahrenden Verkehrs ist unangenehm.“
Das Bremsen beim Bergabfahren sei anstrengend gewesen, ebenso das Bergauffahren, für das es zusätzlicher Kraft bedurfte. In Überlingen sei das Vorankommen besonders schwierig gewesen, aufgrund nicht abgesenkter Bordsteinkanten, Kopfsteinpflaster, steiler Straßen und Treppen, wegen der man mühevolle und kraftraubende Umwege fahren musste. Die 19-Jährige stellt fest: „Wenn Du einen Ort nicht kennst, hast Du mit dem Rollstuhl total verloren.“
Experten schildern viele Probleme
Das bestätigen auch die beiden ehemaligen, ehrenamtlichen Behindertenbeauftragten der Stadt Singen, Helga Schwall und Klaus Wolf. Sie erläutern, dass Barrierefreiheit für Menschen im Rollstuhl oder mit Rollator in den Landkreisen Konstanz, Bodenseekreis, Lindau oder Ravensburg noch lange nicht erreicht sei. In diesen Gebieten seien die beiden von 2013 bis 2023 zur Bestandsaufnahme bezüglich Barrierefreiheit und Inklusion unterwegs gewesen. Schwall sitzt selbst im Rollstuhl, Wolf ist ihre ständige Begleitperson.
Sie berichten davon, dass in vielen Städten die Gehwege zu schmal und oftmals ohne Absenkungen an den Übergängen seien. Hinzu kämen Hindernisse durch Außenbestuhlung der Gastronomie, geparkte Autos auf Gehwegen oder Warenauslagen von Geschäften. Oft fehlten Behinderten-Toiletten oder -Parkplätze.
Zwar habe man in den vergangenen 20 Jahren etwa mit barrierefreien Bushaltestellen oder Straßenquerungen sowie dem Um- und Neubau öffentlicher Einrichtungen mit Aufzügen und Rampen begonnen. Es gebe jedoch noch viel zu tun für eine lebenswerte, barrierefreie Umwelt für Menschen mit einem Handicap. Schwall und Wolf betonen, dass die Inklusion in Kindergärten, Schulen, Beruf oder in der Freizeit ebenso dazu gehöre.
Es gibt auch negative Momente
Dass es nicht immer rund läuft, kann die FSJlerin nach ihrem Experiment bestätigen. Eine für sie schlimme Situation wird sie wohl nicht vergessen: „Ein Busfahrer hat die Rampe aufgemacht und mich hineingeschoben, ohne mich zu fragen. Da wurde mir bewusst: Man kann sich nicht wehren, wenn einen jemand einfach irgendwo hinschiebt.“ Sie habe sich dann rückwärts richten wollen, aber der Busfahrer habe sie nach vorne gedreht und zu ihr gesagt: „Du musst dich noch umdrehen“. Das habe sie als einen übergriffigen Moment empfunden.

Beim Busfahren gebe es allgemein ein Kommunikationsproblem: Denn wenn man alleine sei, müsse man nach vorne gehen und um Öffnung der Rampe bitten. Manche Busfahrer machten das unaufgefordert, andere wiederum reagierten genervt wegen des vermasselten Zeitplans. Eine Überraschung habe es beim Zugfahren gegeben: Da halfen spontan Bahnmitarbeiter, ihr die Einstiegsrampe zu legen, obwohl sie diese nicht vorher angemeldet hatte.
Auf die Frage, ob sich nach ihrem Selbstversuch ihre Sichtweise auf den Rollstuhl verändert habe, antwortet sie: „Wenn ich Leute im Rollstuhl sehe, habe ich großen Respekt, und freue mich, dass sie am Leben teilnehmen. Sie haben täglich Hürden zu überwinden, müssen alles für sich neu erfinden. Aber sie sind selbständig.“ Einfacher werde es für jeden mit einem guten Umfeld – durch Freunde, Familie und Beruf. „Es ist wie bei einem Trampolin: Wenn das kaputt ist, kannst Du nur schwer springen. Aber wenn es intakt ist, dann springen sogar Probleme und Barrieren ab.“