Constanze Wyneken und Stephan Freißmann

Alles sah real aus, war es aber nicht: Verzweifelt schreit eine Mutter den Namen ihres Kindes – immer wieder. Sie kann jedoch nicht zu ihm, wird von mehreren Feuerwehrleuten sanft aber bestimmt festgehalten. Ihr Kind befindet sich noch immer im Seehas. Die Mutter wurde bereits von Sicherheitskräften daraus befreit. Die Szene: ein Triebwagen des Seehäsle ist auf einen quer über die Gleise liegenden Baum geprallt. Im Zug befinden sich 46 Fahrgäste. Einige Erwachsene, Jugendliche und eine Kindergartengruppe sind unter ihnen. Durch den starken Aufprall kam es zu Verletzungen der Fahrgäste: Ein junger Mann hat einen offenen Bruch am Fuß. Eine junge Frau, mit einer stark blutenden Platzwunde am Kopf, ist bewusstlos, einer anderen jungen Frau läuft Blut aus dem Mund. Fünf Personen sind leicht verletzt. Die Zuginsassen weinen und rufen um Hilfe.

Bild: Constanze Wyneken
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Dieser Unfall auf der Bahntrasse zwischen Wahlwies und Nenzingen war aber nur gestellt. Es handelte sich um eine Übung der Südwestdeutschen Landesverkehrs-AG (SWEG) und der Feuerwehr Stockach mit Führungsgruppe und den Abteilungen Stadt, Wahlwies, Orsingen-Nenzingen, Radolfzell und Espasingen. An der Übung waren außerdem das DRK, THW, Polizei, ein Kreisbrandmeister und mehrere Notfallseelsorger aus dem Landkreis beteiligt.

Wie es zur Übung kam

Geübt werden sollte ebenso die Rettung Verletzter unter erschwerten Bedingungen wie die Zufahrt über unwegsames Gelände. Der Landkreis Konstanz habe diese Übung initiiert, erklärt Markus Remmel, Eisenbahnbetriebsleiter für die Strecke Stahringen-Stockach bei der SWEG, vor der Übung. Denn der Landkreis ist der Besitzer dieses Streckenabschnitts. Etwa ein Jahr sei diese erste Idee nun her gewesen.

Bild: Constanze Wyneken
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Unmittelbar nach dem Aufprall auf den Baum, welcher den Fahrgästen (Komparsen) vom Lokführer gegen 17 Uhr in ruhigem Ton mitgeteilt wurde, wurde eine Alarmierungskette in Gang gesetzt. Lothar Guduscheit, stellvertretender Bereitschaftsleiter beim DRK Stockach, erklärt: Der Lokführer ruft zunächst beim Fahrdienstleiter an, der wiederum die Rettungsleitstelle alarmiert. Etwa sieben Minuten später hörte man den Alarm durch die Funkgeräte aller Einsatzkräfte gehen, von denen auch einige, zu Übungszwecken, bereits mit im Zug waren. Und weitere fünf Minuten später rücken die Fahrzeuge der beteiligten Rettungskräfte am Unfallort an.

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Zu dieser langen Dauer sagt Stockachs Feuerwehrkommandant Uwe Hartmann nach der Übung, dass der Weg über den Fahrdienstleiter für Zeitverzug sorge. Doch der müsse sehen, wo der Zug konkret steht und dann die Strecke für andere Züge sperren. Und bei der Leitstelle würden Übungen natürlich nicht mit der Priorität echter Einsätze behandelt.

Beinahe zeitgleich geschah in der Nähe des Zugunfallortes ein leichter Verkehrsunfall, zu welchem Notarzt Michael Bentele zunächst hinbeordert wurde.

Bild: Constanze Wyneken
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Nach und nach treffen die Einsatzfahrzeuge der Feuerwehren, des THW und des DRK, sowie der Polizei und der SWEG ein. Eine gut organisierte Kaskade von Rettungsmaßnahmen beginnt: Zuerst wird eine Tür des Zuges geöffnet und Feuerwehrleute betreten den Zug, um eine Erstsichtung des Unfallszenarios vorzunehmen und die Schwerverletzten und Verletzten farblich zu markieren.

Plan und Planänderung

Der Plan ist es laut Tobias Bertsche, Pressesprecher der Feuerwehr Stockach, zunächst die Verletzten zu retten, und dann die Nicht-Verletzten zum Gerätehaus der Feuerwehr zu bringen, um sicher zu gehen, dass niemand, der vielleicht körperlich oder seelisch doch durch den Unfall geschädigt wurde, fälschlich entlassen wird. Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass Unverletzte schnell vom Unfallort entfernt werden und sie nicht die weiteren Rettungsarbeiten behindern.

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Das DRK ändert diesen Plan aber spontan. Eine Sichterin des DRK besteht darauf, zunächst alle Leichtverletzten und Nichtverletzten zu sichten, um eine Einteilung/Ersteinschätzung der Verletzten nach Schwere der Verletzungen vorzunehmen.

Bild: Constanze Wyneken
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Die Komparsen sind überzeugend geschminkt. Und sie spielen überzeugend, um die Aufgabe für die von außen kommenden Rettungskräfte so realistisch wie möglich zu machen. Diese hätten dabei nur gewusst, dass es eine Übung geben würde und dabei die Bahn beteiligt sei, erklärt Lothar Guduscheit. Wo der Einsatz stattfinden würde und was genau passiert sein soll, sei ihnen nicht bekannt gewesen.

Entsprechend sorgen die Komparsen für Stress bei den Einsatzkräften – zum Beispiel durch allgemeines Geschrei. Erfahren hat der Laie bei der Übung: Versorgt werden müssen mitunter nicht zuerst diejenigen, die vor Schmerzen am lautesten schreien oder den Rettern durch Sprüche wie „Wann kommt endlich mal jemand?“ Druck machen.

Stille gefährlicher als Schreie

Denn wenn ein Verletzter sehr still ist, kann das mitunter Schlimmeres bedeuten – so auch bei der Übung: Dabei versorgen die Feuerwehrleute als erstes ein bewusstloses Mädchen. Zum Szenario gehören auch Freunde und Angehörige, die den Einsatzkräften gewissermaßen in die Arbeit hineinfunkten. So will Hannes Sauter unbedingt bei seinem Freund Luis Wochner bleiben, der im Übungsszenario einen offenen Bruch am Bein hat. Zwei Feuerwehrmänner sind zwischenzeitlich damit beschäftigt, Sauter festzuhalten.

Bild: Constanze Wyneken
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Eine derart groß angelegte Übung – es waren insgesamt rund 130 Einsatzkräfte involviert – stellt alle Beteiligten vor eine große Herausforderung und ist in dieser Größenordnung im Landkreis bisher noch nie gemacht worden, erklärt Rüdiger Lempp, stellvertretender Kommandant der Feuerwehr Stockach und Abteilungskommandant Wahlwies.

In einem realen Einsatz wäre die Zahl der beteiligten Einsatzkräfte weit höher gewesen. Es wurde absichtlich ein Missverhältnis von Einsatzkräften zu den Zu-Rettenden hergestellt. Im Idealfall gibt es einen Rettungswagen pro Verletzten. Bei einem Zugunfall wären auch mehrere Helikopter und die Landespolizei im Großaufgebot zum Einsatz gekommen. Dies erklärte der leitende Notarzt Michael Bentele.

Positives Fazit über den Ablauf

Abschließend zeigten sich Rüdiger Lempp, Uwe Hartmann, Henry Groß und Michael Bentele (beide letztere Ärzte des DRK) zufrieden mit dem Ablauf der Übung und lobten die gute Zusammenarbeit aller Kräfte. Der Einsatz habe gezeigt, wie sinnvoll es sei, Führungsstrukturen und Abläufe zu planen und habe den Beteiligten auch ihre Möglichkeiten und Grenzen aufgezeigt. Übungen seien, so Hartmann, wichtig um die Belastbarkeit der Einsatzkräfte auf die Probe zu stellen und für den Ernstfall zu proben. Aber alle hoffen, dass dieser niemals eintreffen wird.