Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden unter Essstörungen. Von einer „explosionsartigen Zunahme“ seit der Corona-Pandemie berichtet Angelika Winter, Schulsozialarbeiterin am Nellenburg Gymnasium, in ihrem Büro, während wenige Türen weiter zwei Psychotherapeutinnen einen Workshop zu genau diesem Thema für die Neuntklässler des Gymnasiums geben. Denn inzwischen würden sich durchschnittlich etwa zwölf Schülerinnen und Schüler pro Schuljahr bei ihr deshalb melden.

„Sie haben entweder selbst Probleme oder beobachten bei ihren Freunden auffälliges Verhalten“, berichtet Winter. Vor der Pandemie seien es durchschnittlich nur zwei Schüler pro Jahr gewesen. „Essstörungen waren in der Pubertät schon immer Thema, aber eben eher Randthema in unserer Arbeit“, sagt die Schulsozialarbeiterin. Die Einschränkungen in der Pandemie hätten aber zu mehr psychischen Problemen bei den Schülern geführt.

Auch die beiden Therapeutinnen Johanna Maier-Karius und Julia Thuß bestätigen diese Zunahme von Essstörungen. Sie arbeiten am Zentrum für Psychotherapie am Bodensee in Konstanz (APB), mit dessen Hilfe Angelika Winter den Workshop seit 2022 als Reaktion auf die Zunahme organisiert.

Welche Faktoren lösen Essstörungen aus?

Die Gründe für Essstörungen sind laut Winter vielfältig: unter anderem ein geringer Selbstwert vor allem während der Pubertät, Stress und Leistungsdruck, familiäre Probleme, ein auffälliges Essverhalten oder Missbrauch in der Kindheit sowie unrealistische Schönheitsideale in den sozialen Medien. „Durch die Regeln in der Pandemie erlebten viele Jugendliche zusätzlich einen Kontrollverlust. Manche reagieren darauf, indem sie beim Essverhalten diese Kontrolle zurückgewinnen wollen, was zu krankhaften Essstörungen führen kann“, erklärt Winter. Zudem habe die verringerte soziale Interaktion mit Gleichaltrigen in der Pandemie zu Verunsicherungen und Ängsten geführt.

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Die meisten Schülerinnen und Schüler, die zu Angelika Winter ins Büro kommen, berichten von Problemen bei Freunden, so die Sozialarbeiterin. Denn es gebe viele Anzeichen für die Krankheit. Dazu zählen eine starke Gewichtsabnahme, langsames oder gar kein Essen in Gesellschaft oder häufige Toilettengänge, um zu erbrechen. „Manchen fällt auch auf, dass die beste Freundin bestimmte Lebensmittel weglässt und plötzlich nicht mehr beim gemeinsamen Eis in der Pause dabei ist“, berichtet Winter.

Wenn Betroffene sich an Schulsozialarbeiterin Angelika Winter wenden, versuche sie zunächst in Gesprächen Vertrauen aufzubauen, aufzuklären und Hilfsangebote zu vermitteln. Und spätestens bei akuter Gefahr würden auch die Eltern informiert.

Eine Spirale mit lebensbedrohlichen Folgen

Denn die Folgen einer Essstörung können laut Winter gravierend sein. Betroffene würden unter weiteren psychischen Problemen leiden, ebenso unter Müdigkeit und bei Bulimie einem gefährlichen Elektrolytmangel durch das Erbrechen, was zu schlechteren Leistungen in der Schule führen könne. Zudem greife die Magensäure die Speiseröhre und den Zahnschmelz an – und das Untergewicht kann irgendwann extrem werden. „Essstörungen sind eine lebensbedrohliche Krankheit, wenn man erst einmal in diese Spirale geraten ist“, stellt Winter klar.

Doch Therapieplätze seien knapp und mit langen Wartezeiten verbunden. „Deshalb ist es wichtig, dass Betroffenen sich trauen, frühzeitig darüber zu sprechen, und wir diese Spirale bereits durchbrechen können, bevor ein Klinikaufenthalt notwendig wird“, erläutert die Schulsozialarbeiterin.

Daher habe sie gemeinsam mit den Therapeutinnen, der APB und dank der Finanzierung durch die Bürgerstiftung nun zum zweiten Mal den Workshop als Prävention organisiert und sogar um einen Infoabend für die Eltern erweitert. Denn häufig würden die Angehörigen aus Hilflosigkeit ebenfalls leiden – oder erst gar nichts von der Krankheit bemerken.

Wie läuft der Workshop ab?

In separaten Vorträgen für die Eltern sowie die Schüler der neunten Klassen, in denen die Probleme laut Winter meist beginnen, habe sie daher über Formen, Ursachen, Merkmale und Hilfsangebote informiert. Im Anschluss daran konnten die Schüler Fragen stellen. „Natürlich merkt man einigen dabei ihre Zurückhaltung an, es ist kein einfaches Thema“, berichtet Winter über die Resonanz auf den Vortrag, der zum Schutz der Schüler unter Ausschluss externer Personen stattfand.

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Im Anschluss daran ermöglichten die beiden Therapeutinnen Julia Thuß und Johanna Maier-Karius in noch intimerer Atmosphäre im Klassenverband weitere Gespräche. Über eigene Probleme hätten keine Schüler berichtet, jedoch häufig von Erlebnissen bei Freunden oder Bekannten. „Solche vorsichtigen Äußerungen sind oft ein Anzeichen, dass vielleicht mehr dahinter steckt“, erklärt Angelika Winter.

Entscheidend für den Erfolg des Präventivangebots sei ohnehin der langfristige Effekt. „Die Schüler werden jetzt untereinander darüber sprechen, sich austauschen und Gedanken machen“, erklärt sie weiter.

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Bereits im vergangenen Jahr hätten im Anschluss an den Workshop mehrere Klassen weiteren Gesprächsbedarf angemeldet. Die Schule möchte das Präventivangebot daher beibehalten und als jährlichen Termin fest für die Neuntklässler verankern, wie Schulleiter Holger Seitz ankündigt.