Herr Özdemir, Sie hatten ja schon einige Ämter, inzwischen sind Sie nur noch Bundestagsabgeordneter und Ausschussvorsitzender. Sie standen also schon einmal stärker in der Öffentlichkeit. Wie erklären Sie sich die Vorladung vor das Narrengericht?
Die Gründe für meine Vorladung scheinen mir tiefer zu liegen: Wir schreiben das Jahr 669 nach Hans Kuony. Und im Jahr 1669 endete mit der Kapitulation Venedigs vor dem Osmanischen Reich die mit 21 Jahren längste Belagerung der Menschheitsgeschichte. Als anatolischer Schwabe, der dazu beigetragen hat, das Ländle von christdemokratischer Belagerung zu befreien, glaube ich hier an alles, nur nicht an Zufall.
Sie sind einer der wenige Grünen, die vors Narrengericht geladen wurden – Segen oder Fluch in einer Gegend, in der die CDU sehr stark ist?
Wir begrünen das ganze Ländle seit einigen Jahren massiv, in der Bodenseeregion haben wir 2016 bei der Landtagswahl alle Direktmandate gewonnen. Narren haben eine gewisse Skepsis gegenüber den Mächtigen.
Da liegt es in der Natur der Sache, dass das Narrengericht jetzt auch verstärkt uns Grüne ins Visier nimmt. Insofern betrachte ich das als Auszeichnung.Wird Ihnen Ihre Erfahrung als einer der ersten schwarz-grünen Netzwerker zugute kommen?
Das hilft sicherlich, ich bin da optimal vorbereitet. Und nachdem ich als Zeuge für Peter Altmaier vor dem Narrengericht aufgetreten bin, kam er relativ moderat mit einem Eimer Wein als Strafmaß davon.
Die Gerichtsnarren schieben es ebenfalls auf Sie, dass Altmaier damals eine relativ milde Strafe bekommen hat. Wie wollen Sie da einen Freispruch schaffen?
Das stellt ja alles auf den Kopf, wenn man dem Zeugen vorwirft, dass er seinen Job überzeugend macht!
Trauen Sie Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der als Zeuge auftritt, eine wirkungsvolle Verteidigung zu?
Er ist der beste Zeuge, den es geben kann – unzweifelhafter Leumund, glaubwürdig, hohe moralische Integrität, eine Instanz im Land. Mit dem Ministerpräsidenten Kretschmann an meiner Seite wäre alles andere als ein Freispruch eine Farce.
Ausgebildet sind Sie als Erzieher. Was wollen Sie den Gerichtsnarren beibringen?
Kindergeburtstage feiern könnte ich mit ihnen bis zum Morgen und auch Kinderlieder habe ich noch einige parat. Und was die Fasnachtserfahrung angeht, bin ich kein ganz unbeschriebenes Blatt. Nach der Verhandlung gegen Peter Altmaier bin ich Laufnarr geworden, bin Träger der goldenen Narrenschelle der Vereinigung Schwäbisch-Alemannischer Narrenzünfte und habe die Laudatio auf Freiburg-Trainer Christian Streich gehalten. Auch „auswärtige“ Erfahrung bringe ich mit, zum Beispiel als Träger des Ordens wider den tierischen Ernst des Aachener Karnevalsvereins.
Einen der Ihren werden die Narren also nicht bestrafen?
Ich kann es mir nicht vorstellen. Die Anklagepunkte sind vollkommen substanzlos. Wenn diese hanebüchenen Vorwürfe bekannt werden, hat das Gericht ein massives Glaubwürdigkeitsproblem.
Die Narren haben die Anklagepunkte in der Vergangenheit fast immer überzeugt – sie wollen ja schließlich Strafwein haben.
Das verstehe ich gut. Sie wissen aber auch, dass sie einen Schwaben vor sich haben. Und der ist ja gerne etwas geizig mit Dingen, die er hergeben soll – zumal wenn er sich im Recht sieht.
Falls Sie verurteilt werden sollten, welcher Wein wäre eine Strafe für das Narrengericht?
Ich gehe erst einmal davon aus, dass es dazu gar nicht kommt. Aber falls das Gericht doch so töricht wäre: Auf dem Weg zur Walhalla in Bayern gibt es einen interessanten Pfad, da wird ein Drei-Männer-Wein vorgestellt. Der heißt deshalb so, weil einer ihn getrunken hat und zwei ihn halten mussten, weil es ihn so geschüttelt hat. Auf so etwas müsste das Gericht sich einstellen.
In Bad Urach hatten Sie schon Berührung mit der Fasnacht. Wie haben Sie das erlebt?
Das hatte früher skurrile Züge. Meine muslimischen Eltern haben zu mir gesagt, man müsse sich jetzt verkleiden, das gehöre hier dazu. Also komme ich verkleidet in den evangelischen Kindergarten von Bad Urach und treffe auf evangelische Kinder, die erklären, dass dieses Brauchtum heidnisch sei und sich ein guter Christ nicht verkleiden würde. Da können Sie sich das Gesicht des kleinen Cem vorstellen!
Winfried Kretschmann isst auch Fasnachtsklassiker wie Froschkutteln. Sie sind seit dem 17. Lebensjahr Vegetarier. Was steht bei Ihnen auf dem Speiseplan?
Dinkel-Döner, Hirse-Hamburger und in der Fasnachtszeit natürlich Tofu-Froschkutteln! Im Ernst, es würde mich nicht überraschen, wenn es die veganen Froschkutteln wirklich gäbe, geschmacklich bekommt man inzwischen ja die erstaunlichsten Dinge hin.
Wie stehen Sie zu Indianerkostümen?
Da bin ich von Kindesbeinen an geprägt: Ich habe mich oft als „Indianer“ verkleidet, die Native Americans, wie man sie heute nennt, waren meine Helden. In meinem Jugendzimmer hingen damals Plakate mit den zugeschriebenen Weisheiten der amerikanischen Ureinwohner, zum Beispiel, dass man Geld nicht essen kann. Dieses Denken hat mich auch bei meiner Politisierung beeinflusst. Wichtig ist bei aller Überspitzung und Rollentausch an Fasnacht natürlich aber, dass man beim Verkleiden ein gewisses Bewusstsein für die Hintergründe der jeweiligen Kultur hat.
Nerven Sie Fragen zum Migrationshintergrund?
Damit gehe ich mit Humor um. Einmal sollte jemand eine Rede auf mich als Bierbotschafter halten und wollte wissen, ob ich als Muslim überhaupt Alkohol trinke. Ich habe mir den Spaß gemacht, zu sagen, dass ich Bier nur von geschächteten Tieren trinke. Es hat etwas gedauert, bis er fragte, ob für Bier tatsächlich Tiere getötet würden. Sie sehen: Man kann den Leuten in Sachen Religion alles Mögliche erzählen.
Das zeigt ja auch, dass das Zusammenleben noch nicht selbstverständlich ist.
Keineswegs. In einer Rede als Bierbotschafter habe ich mir mal erlaubt zu sagen, dass der Prophet Mohammed den Alkohol verboten hat, weil es damals das Deutsche Reinheitsgebot noch nicht gab und er die Menschen vor Gesundheitsgefahren schützen wollte. Aber manche finden sogar, dass man so etwas nicht sagen sollte. Ich halte das für Quatsch. Solange man den Respekt voreinander nicht verliert, kann man sehr viel sagen.
Dafür hatten Sie auch schon mehrfach Polizeischutz.
Augen auf bei der Berufswahl, sagt mein Team immer. Stand heute war ich tatsächlich längere Zeit als Bundestagsabgeordneter mit Schutz durch das Bundeskriminalamt unterwegs, als ohne.
Haben Sie sich auch bedroht gefühlt?
Ich werde bedroht, das ist Fakt. Aber ich bin in der vergleichsweise privilegierten Situation, Begleitung durch das Bundeskriminalamt zu bekommen. Viele Kommunalpolitiker und ehrenamtlich Engagierte haben das nicht, müssen sich aber auch einiges anhören. Diese Einschüchterungsversuche sind inakzeptabel, das kratzt an der Basis unserer Demokratie. Da ist etwas verrutscht in der Gesellschaft, was dringend wieder zurecht gerückt werden muss. Auch in unseren Parlamenten sitzen inzwischen in Fraktionsstärke Leute, die die freiheitliche Grundordnung unseres Landes infrage stellen. Es liegt jetzt an uns, zu zeigen, dass man nicht umsonst von einer wehrhaften Demokratie spricht.
Bei den schwarz-gelb-grünen Koalitionsverhandlungen wurden Sie als Außenminister gehandelt. Sind Sie im Nachhinein froh, dass es dazu nicht gekommen ist, wenn man die Entwicklung in der CDU betrachtet?
Wir Grünen sind jedenfalls nicht davongelaufen, das hat ein anderer verlindnert. Was Annegret Kramp-Karrenbauer angeht, habe ich erst einmal Respekt, dass sie Verantwortung übernimmt. Aber es ist sehr bedauerlich, dass der öffentliche Eindruck ist, sie sei wegen der AfD in Thüringen zurückgetreten. Es ärgert mich sehr, dass die ganze Republik nur noch über die besonders fanatische AfD in Thüringen spricht. Deswegen ist es wichtig, dass die besonnenen Kräfte in allen demokratischen Parteien deutlich machen, dass wir in einer großartigen Demokratie leben. Und es muss klar sein, dass wir diese Demokratie nicht lächerlich machen lassen von den Fanatikern der AfD.
Haben Sie keine Angst vor einem schlechten Omen, wenn Sie sehen, wie es Annegret Kramp-Karrenbauer ein Jahr nach ihrem Auftritt in Stockach geht?
Ich habe ja schon über das Narrengericht gespottet. Aber es wäre zu viel der Ehre zu sagen, dass die Stockacher Schuld an ihrem Rückzug tragen. Davon abgesehen: Angst ist niemals ein guter Ratgeber. Und wer sich schon Erdogan und der AfD in den Weg gestellt hat, der scheut auch nicht den Gang vors Narrengericht in Stockach.
Sie haben selbst in den 1980er- und 90er-Jahren daran mitgewirkt, eine Bahnstrecke in Bad Urach vor der Stilllegung zu retten. In Stockach gibt es die Ablachtalbahn, von der sich manch einer wünscht, dass dort wieder Züge rollen. Welche Tipps können Sie geben?
Im Haushalt ist schon mehr Geld für die Reaktivierung von Bahnstrecken eingestellt. Ich kann nur raten: Erinnert alle Politikerinnen und Politiker, die in die Gegend kommen, daran, das jetzt auch tatsächlich zu investieren. Wer über Verkehrswende, Nachhaltigkeit und einen zukunftsfesten ländlichen Raum spricht, kann sich den Luxus nicht leisten, Eisenbahnverbindungen brach liegen zu lassen. Ich selber arbeite jeden Tag daran, meinen Teil dazu beizutragen.