Das symbolische Blatt nahm Gustav Dorell nie vor den Mund. Er war vielmehr ein Mensch der offenen und ehrlichen Worte. Wer bei ihm Rat suchte, der durfte sich darauf verlassen, eine aufrichtige und geradlinige Antwort zu erhalten. Vor wenigen Tagen schlief er im Alter von 95 Jahren friedlich für immer ein.
Am 21. Januar 1930 erblickte er im litauischen Rumšiškės, auf Deutsch Rammonischken, als Gustav Dorelis die Welt, noch während des Krieges wurde der Namen eingedeutscht und in Dorell geändert. Er war das jüngste von sieben Kindern.
Der Krieg brachte Gustav Dorell ins Kinderdorf nach Wahlwies
Seine Eltern betrieben in Litauen einen Bauernhof, weshalb er früh in Kontakt mit der Landwirtschaft kam. Der Krieg zwang die Familie zur Flucht, mit einem Pferdetreck ging es in die Region Danzig. Gustavs Mutter starb während der Flucht, der älteste Bruder an der Front, die Familie wurde zersprengt.
Der 13-Jährige blieb zunächst in Danzig, verpasste Ende Januar 1945 nur um Haaresbreite das Marine-Schiff Wilhelm Gustloff, das deutsche Soldaten und zivile Flüchtlinge aus den Ostprovinzen Deutschlands über die Ostsee evakuieren wollte.
Was zunächst wie großes Pech aussah, entpuppte sich als tragischer, persönlicher Glücksfall für ihn und seine Nachkommen: Ein sowjetisches U-Boot feuerte mehrere Torpedos auf die Wilhelm Gustloff, die schließlich sank. Mehr als 9000 Menschen kamen ums Leben, das Ereignis gilt als die größte Schiffskatastrophe in der modernen Geschichte.
Gustav Dorell kam als sogenannter unbegleiteter Flüchtling 1948 in einem Viehwagen ins Kinderdorf nach Wahlwies. Was er nicht wissen konnte, aber sehr wohl hoffte: Hier sollte er, mit Ausnahme mehrerer mehrmonatiger Aufenthalte in Schweden sowie in Schottland, den Rest seines langen Lebens verbringen. Im Kinderdorf absolvierte er eine Lehre zum Schuhmacher.
In Wahlwies ließ Gustav Dorell „Hoffnungen, Träume und Vertrauen wachsen“
Die Liebe zu Schweden entflammte, als er eine Dokumentation über das skandinavische Land im Fernsehen verfolgte. Diese Liebe gab er weiter an seine zwei Jungs Michael und Jan, die dort gemeinsam mit ihren Familien regelmäßige Urlaube verbringen. Im Norden fanden sie Freunde, die zu Familie wurden.
„Für ihn wie für uns ist Schweden genau wie Wahlwies Heimat“, erzählt Jan Dorell, fünffacher Familienvater und Anwalt in Stockach. Familie und damit einhergehend Sicherheit und Halt waren unverrückbare Säulen im Leben des Gustav Dorell.
Im Kinderdorf übernahm er im Laufe der Jahre neben seiner Tätigkeit als Schuhmacher wichtige Funktionen als Obstbauer, als Leiter der Abteilung Obstbau – sowie als Mensch mit großem Herz, der für die jungen Bewohner der Einrichtung stets ein offenes Ohr hatte.
In einem Nachruf schreibt die Verwaltung des Kinderdorfes: „Mit Kopf, Herz und Hand sowie klaren Worten fand er immer guten Zugang zu den jungen Menschen, die er begleitet und geprägt hat. Er ließ nicht nur Bäume wachsen, sondern auch Hoffnungen, Träume und Vertrauen.“ Weiter heißt es in dem Nachruf: „Mit Gustav verlieren wir einen geradlinigen, aufrichtigen und gutherzigen Menschen, dessen warmes Wesen und klare Ansagen wir vermissen werden.“
Seine Frau Marianne lernte er ebenfalls im Kinderdorf kennen – sie arbeitete dort als Arzthelferin. Zusammen wohnten sie viele Jahre in einer Wohnung in der Einrichtung, ihre gemeinsamen Kinder Michael und Jan wuchsen hier ebenfalls auf.
Und auch die Enkelkinder Jonas, Malin, Sophia, Lennard und Philipp sind ebenfalls in der Region verwurzelt. Marianne starb bereits vor 18 Jahren, seither kümmerten sich die Kinder und Kindeskinder tagtäglich um ihren Vater und Großvater Gustav, der bis vor Kurzem in der Wohnung im Kinderdorf lebte.
Gustav Dorell und seine unnachahmliche Art werden vielen Menschen fehlen.