18 000 Fahrzeuge fahren täglich durch Göggingen, hunderte Lastwagen donnern durch die Ortsmitte, darunter viele Kieslaster, denn rund um den Ort wird seit Jahrzehnten Kiesabbau betrieben. Einen Eindruck von diesem Durchgangsverkehr erhält Johannes Kretschmann, Bundestagskandidat für Bündnis 90/Die Grünen im Wahlkreis Zollernalb-Sigmaringen, als er zum SÜDKURIER-Gespräch in der schön gestalteten Ortsmitte unterhalb der Kirche eintrifft.

Zum Termin in Göggingen kam Johannes Kretschmann mit dem Fahrrad.
Zum Termin in Göggingen kam Johannes Kretschmann mit dem Fahrrad. | Bild: Günther Brender

Der im Nachbarort Laiz wohnhafte 43-Jährige ist mit dem Fahrrad gekommen, und erwartet wird er von Wolfgang Veeser. Als Überraschungsgast schildert der Gögginger dem potenziellen Bundespolitiker die enorme Belastung seiner Mitbürger durch den Verkehr und rührt die Werbetrommel für eine Umfahrung beziehungsweise eine Alternativtrasse. Es geht um die „Nordtrasse“, die von der grünen Kreistagsfraktion abgelehnt wird, obwohl das Projekt in den vorrangigen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans aufgenommen wurde.

Kretschmann lehnt komplett neue Trasse für Umgehung ab

„Warum wollen die Grünen einen solch demokratisch legitimierten Beschluss nachträglich wieder kippen?“, adressiert Veeser als Frage an den aufmerksamen Zuhörer. Grundsätzlich sei er für eine Entlastung der Menschen vor Ort, eine neue Trasse lehne er aber ab, ist Kretschmann überzeugt, dass die von den Grünen favorisierte Lösung, bereits bestehende Umfahrungen und Straßen als Entlastungsstrecke zu nutzen, umweltschonender und kostengünstiger ist.

Gespräch mit Johannes Kretschmann 1 Video: Günther Brender

Die Linienführung für eine Trasse sei ohnehin offen, das habe ihm der vom Landkreis eingestellte Planer Thomas Blum erklärt. Wolfgang Veeser bezweifelt, dass eine solche Umfahrung von Auto-und Lastwagenfahrern tatsächlich genutzt wird, da sie keine Zeitersparnis bringe. Besser wäre eine zentrale, direkte Achse, sprich neue Trasse.

Zweifel, ob Bund für Straßenprojekt Geld gibt

Zweifel hat Kretschmann, dass der Bund im Landkreis Sigmaringen überhaupt ein solches Projekt umsetzt, denn das Budget sei begrenzt und bei der Planung neuer Straßen würden künftig deren Auswirkungen auf Umwelt und Klima, und zwar im globalen Kontext, stärker berücksichtigt. Umso weniger kann Veeser deshalb verstehen, dass die Grünen für ihre Ablehnung der Nordtrasse 16 Hektar Wald vorbringen, die für das Projekt weichen müssten. Gleichzeitig werde eine 100 Hektar große Waldfläche als Kiesabbaugebiet ausgewiesen, wogegen sich bei den Grünen kein Widerstand rege.

Bürger adressiert „Hilfeschrei der Gögginger“

Er habe mit Beteiligten aller betroffenen Gemeinden gesprochen, erwidert der grüne Kandidat, der mit Listenplatz 21 eine hervorragende Chance auf den Einzug in den Bundestag hat, auf die Mahnung von Wolfgang Veeser, dass man keinesfalls die Entlastung einiger Kommunen zulasten anderer Gemeinden durchführen dürfe.

Gespräch mit Johannes Kretschmann 2 Video: Günter Brender

Mit Blick auf die Zukunft des Verkehrs mit Digitalisierung oder autonomen Fahren hofft der passionierte Rad- und Bahnfahrer Kretschmann, dass das Fahrzeugaufkommen sich insgesamt verringert. Logistikunternehmer hätten ihm bestätigt, dass es mit einem stetigen Anstieg nicht mehr weitergehen könne. Als „Hilfeschrei der Gögginger“ versteht Wolfgang Veeser seinen Austausch mit Johannes Kretschmann und hat vor allem eine Bitte: „Vergessen Sie uns nicht!“ „Ich bin ein Kommunalpolitiker und mache Politik für die Menschen in meiner Heimat“, versichert der grüne Kandidat, dass er alles versuchen will, wobei es nicht seriös wäre, Versprechungen zu machen.

Gesellschaftliche Zustimmung für grüne Themen wächst

Gespräch mit Johannes Kretschmann 3 Video: Günther Brender

Die vorsichtig-bodenständige Attitüde des studierten Sprachwissenschaftlers, der in Laiz in einem alten Bauernhaus wohnt, wird auch in seiner Einschätzung zu Umfragen deutlich, die ihn und den seit vier Wahlperioden direkt gewählten CDU-Mann Thomas Bareiß in der Wählergunst gleichauf sehen. Er freue sich über die gestiegene Popularität, aber man dürfe nicht vergessen, dass die Grünen bundesweit 2017 8,9 Prozent erreicht hätten. Die gesellschaftliche Zustimmung zu grünen Themen habe sich vergrößert, nennt er als eine Ursache für die positiven Umfragewerte.

Kretschmann: „Landwirte wollen keine Alimentierung!“

Auf die Frage, wie er im Ländlichen Raum, die skeptische Berufsgruppe der Landwirte für grüne Politik gewinnen will, erklärt Johannes Kretschmann, das Gesellschaft und Politik die enorme Wichtigkeit der Landwirtschaft für den Klimaschutz mehr betonen und würdigen müssten. Einen ersten Ansatz sieht er in der Neuausrichtung der EU-Agrarpolitik, die Zahlungen stärker von Ökofaktoren abhängig mache. „Landwirte wollen keine Alimentierung, sondern für ihre Arbeit anständig bezahlt werden“, kennt er die Gemütslage der Bauern. Man müsse die Förderung für nachhaltige Produktion und Produkte so attraktiv gestalten, dass Landwirte beispielsweise auf den Bau eines 1000-Kühe-Stalls verzichten.

Afghanistan: „Versagen in der jetzigen Situation!“

Gespräch mit Johannes Kretschmann Video: Günther Brender

Vom SÜDKURIER auf die Geschehnisse in Afghanistan angesprochen, attestiert Kretschmann ein „Versagen in der jetzigen Situation.“ Als schlimmes Versagen der Nato bezeichnet er deren Truppenabzug, denn man habe ohne direkte Not den Einsatz aufgegeben. Die grüne Sicherheitsexpertin Agnieszka Brugger habe vor der drohenden Katastrophe gewarnt, aber schier reflexartig ignorierten die anderen Parteien deren Aussagen und lehnten beispielsweise einen Abschiebestopp von Flüchtlingen nach Afghanistan ab. Abstimmungen würden entlang von Fraktionsgrenzen verlaufen und sich nicht an der Thematik orientieren, das sei die politische Rollenverteilung. Dass allerdings die afghanische Armee vor den heranrückenden Taliban flüchtet, habe in diesem Ausmaß niemand ahnen können. Die Konsequenzen werde Europa zu spüren bekommen, und zwar durch steigende Flüchtlingszahlen.

Plädoyer für EU-Erweiterung und europäische Armee

Sollte Johannes Kretschmann den Sprung nach Berlin schaffen, würde er sich auch und besonders für die Stärkung Europas einsetzen und die Beitrittsverhandlungen beispielsweise mit Albanien oder Nordmazedonien forcieren. Man dürfe diese Länder „nicht an der langen Hand verhungern lassen“ und womöglich dem Einfluss Russlands oder Chinas überlassen. Er plädiert deshalb auch für eine europäische Sicherheitspolitik, inklusive einer europäischen Armee.

Gespräch mit Johannes Kretschmann 4 Video: Günther Brender

Guter Platz auf der Landesliste für die Bundestagswahl

Klar ist, dass der Laizer mit seiner ruhigen, sachlich argumentativen Darstellung von Themenkomplexen bei vielen Gesprächspartnern Symphatiepunkte erwirbt, die sich am 26. September in Wählerstimmen ummünzen sollen. Dank seines guten Platzes auf der Landesliste erscheint ein Einzug in den Bundestag realistisch und sogar der Kampf um das Direktmandat ist spannender, als mancher Beobachter vermutete.