Deutschlands bekannteste Wohngemeinschaft (WG) ist eine politisch motivierte: die Kommune 1, 1967 in Berlin gegründet. Da redeten Peter Langhans und Uschi Obermaier offen über ihre Sexualität, sie demonstrierten gegen den Schah-Besuch und in ihrem Umfeld planten Aktivisten ein Pudding-Attentat auf den US-Vizepräsidenten Hubert H. Humphrey. Eine Wohngemeinschaft gilt seither als Gegenmodell zur bürgerlichen Kleinfamilie, in der sich junge Menschen gegenseitig den Inhalt des Kühlschranks weg futtern, Küchenschaben im Vorratsschrank Partys feiern und der Grünspan im Bad für Farbe sorgt. So weit die Klischees. Doch kann es gut gehen, wenn sich ältere Menschen unter einem gemeinsamen Dach zusammen schließen?
Ja. Das zeigt der Kreisverband der Arbeiterwohlfahrt (AWO), der vor knapp über einem Jahr einen Neubau an der Hauptstraße bezogen hat – mit Tagespflege, seniorengerechten Wohnungen und einer ausgebuchten Seniorenwohngemeinschaft, die für 15 Menschen zu einem neues Zuhause geworden ist. Diese Alten-WG ist die Antwort der AWO auf die Frage, wie Menschen bis ins hohe Alter ein selbstständiges Leben nach individuellen Ansprüchen führen können, auch wenn sie pflegebedürftig oder demenziell erkrankt sind. Ein Maximum an Selbstständigkeit, ein Optimum an Betreuung und Pflege: Genau das will die AWO ihren WG-Bewohnern bieten.
Bewohner von 55 bis 94 Jahre alt
„Die Pflege hier ist sehr gut“, sagt Hilda Husemann, die mit ihren 94 Jahren das älteste WG-Mitglied ist. Wenn sie mit kochen dran ist, dann wissen alle anderen: Als Beilage gibt es Kartoffeln, weil die Hilda Husemann Nudeln, Reis oder Spätzle vorzieht. Ein Küchenplan regelt, wer wann an er Reihe ist, fürs Mittagessen zu sorgen. Unterstützung erhalten die Bewohner dabei von zwei Betreuerinnen, die tagsüber die WG begleiten, nachts ist immer eine Betreuungskraft vor Ort – was den betagten Menschen viel Sicherheit gibt. Beim SÜDKURIER-Besuch sind es Bettina Fritz und Martina Velten, die den Köchinnen zur Hand gehen. Das machen sie aber nur, wenn Unterstützung notwendig wird. Denn die Bewohner sollen möglichst viele Dinge des täglichen Lebens in Eigenregie übernehmen. Hilda Husemann lebte zuvor in einem Pflegeheim im Hegau, wo es ihr aber nicht gefallen hat. Sie sei froh, dass ihre Tochter, die gleich nebenan wohnt, sie nach Blumberg geholt habe. „Woran sieht man, dass das Essen hier wirklich gut ist?“, will sie wissen. Die Antwort gibt sie selbst, indem sie lachend auf ihren Bauch zeigt.
Elke Sojka ist mit ihren 55 Jahren die jüngste Mitbewohnerin. Sie arbeitete zuletzt in einer Werkstatt für Menschen mit Handicap und als ihre Mutter starb, da wollte sie nicht alleine wohnen. Nach einer zweiwöchigen Probezeit stellte sie fest: „Jawohl, diese Wohngemeinschaft ist was für mich.“ Sie übernimmt für die anderen auch mal den Spülmaschinendienst oder das Tischdecken. „Ich helfe einfach gerne“, sagt sie. Natürlich verstehe man sich nicht mit allen Mitbewohnern gleich gut, „aber wir kommen aneinander vorbei“.
Als Kriegsflüchtling aus dem Sudetenland kam Gertrud Bialas einst nach Blumberg. Hier lernte sie auch ihren Mann kennen, der ab 1938 im Doggererz arbeitete. Sie erzählt vom eigenen Häuschen, von ihrer Arbeit in der längst geschlossenen und viele Jahre später abgerissenen Lauffenmühle und vom Sohn und den Enkelkindern, die immer wieder vorbeischauen. Gertrud Bialas besuchte zunächst die Tagespflege der AWO. Als diese coronavirusbedingt schließen musste, kam sie in ein Altenheim jenseits des Randens. Doch da hat es ihr überhaupt nicht gefallen. „Als bei uns ein Zimmer frei wurde, haben wir sofort ihre Tochter angerufen und ihr gesagt, dass wir ihre Mutter wollen“, erzählt Betreuerin Bettina Fritz. Der Satz ist kaum verklungen, da kann Gertrud Bialas ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.

Mit ihren 65 Jahren zählt Sabine Schmitt zu den jüngeren WG-Bewohnern. Wer sie kennen lernt, der fragt sich zunächst, weshalb diese Frau überhaupt Betreuung braucht. Seit einem Schlaganfall ist sie auf Pflege angewiesen, doch für ein reines Pflegeheim ist sie noch zu fit, wie sie durch eigene Anschauung, besser eigenes Erleben, erfahren musste. Die Seniorenwohngruppe sei für sie zunächst eine Notlösung gewesen, berichtet sie. „Doch mittlerweile fühle ich mich hier wohl.“ Sie schätzt es, einerseits immer einen Gesprächspartner zu haben, andererseits aber auch alleine sein zu können. Sie geht gerne shoppen, häufig in Begleitung von Elke Sojka.
Ehepaar Forstner ist auch in die WG eingezogen
Auch ein Ehepaar hat sich der WG angeschlossen, Gerda (82) und Georg Forstner (84). Die Blumberger kennen die beiden von deren Friseur-Salon her. Auch hier war es der Schlaganfall von Georg Forstner, weshalb sich die Eheleute auf die Suche nach einer betreuten Wohnform machten und bei der AWO fündig wurden. Forstner ist einer von drei Männer unter zwölf Frauen, wobei sich das vermeintlich starke Geschlecht vor dem Pressetermin gedrückt hat.
Der „Spaßvogel“ unter den Bewohnern ist Elfriede Müller, die aus Regensburg stammt und der Liebe wegen nach Blumberg zog. Sie arbeitete in verschiedenen Haushalten und hatte Zeit ihres Lebens immer viele Menschen um sich herum. Da war es für sie kein großer Schritt, sich in eine WG einzumieten – schließlich braucht ein Spaßvogel sein Publikum.
Fußball wird zum Gruppenerlebnis
Milchkühe samt Nachzucht, Schweine und Hühner haben das Leben von Helga Meister, 77 geprägt. Sie bewirtschaftete mit ihrem Mann in Fützen einen Bauernhof und hat nach einem Sturz eine Odyssee aus Krankenhaus, Reha-Einrichtung und Pflegeheim hinter sich gebracht. Umso glücklicher ist sie, jetzt nur ein paar Kilometer von ihrem Heimatdorf entfernt untergekommen zu sein.
Im Gespräch mit den älteren Herrschaften wird klar: Nicht jeder kann mit jedem gleich gut. Manche nehmen die Gruppenangebote wie Singen, Gedächtnistraining oder Gymnastik an, andere machen lieber ihre Zimmertüre hinter sich zu. Wird gemeinsam Florian Silbereisen im Fernsehen angeschaut? Die Frauen schütteln mit den Köpfen. Aber wenn die deutsche Fußballnationalmannschaft spielt, dann wird das zu einem Gruppenerlebnis. Da unterscheidet sich eine Senioren-WG kein bisschen von einer Studenten-WG. Nur das bei Letzterer niemand das Gemeinschaftszimmer nach dem Abpfiff aufräumt.