Der Lockdown beeinträchtigt nicht nur die Gemütslage, er wirkt sich, Stichwort Homeoffice und Distanzunterricht, auch auf die Funktionsfähigkeit unserer Augen aus. „Sehkraft leidet unter Homeschooling“ titelte dieser Tage die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ). Auch Donaueschinger Augenärzte haben die hinter dieser Aussage stehende Studie der Universitätsklinik wahrgenommen. Sie warnen aber vor einer schon länger stattfindenden Entwicklung.

Jeder zweite junge Erwachsene ist kurzsichtig

„Kurzsichtigkeit war schon vor dem Lockdown ein Riesenthema. Das beunruhigt uns Augenärzte sehr. Wir sehen eine Welle von Patienten auf uns zurollen
mit Augenproblemen, die die Kurzsichtigkeit im Alter
verursacht“, sagt Tilman Freytag. Der Facharzt für Augenheilkunde leitet eine übergeordnete Praxisgemeinschaft an der Karlstraße. Myopie, wie das Phänomen, Dinge in der Nähe, aber nicht in der Ferne zu erkennen, genannt wird, ist ein wachsendes Problem. Der Anteil kurzsichtiger Menschen hat sich in wenigen Jahrzehnten verdreifacht.

Gegenwärtig gilt ein Drittel aller Erwachsenen weltweit als kurzsichtig, bei den jüngeren Erwachsenen leidet jeder zweite unter Myopie. Je nach Region und Kontinent gibt es hier große Unterschiede. „Unvorstellbare Ausmaße“, so Freytag, habe die Kurzsichtigkeit in Asien erreicht. Bei einem Anteil von bis über 90 Prozent gelte ein Jugendlicher ohne Brille fast schon als Exot.

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Isabell Hennig beobachtet seit etwa einem Jahr, dass Sehprobleme von Kindern zunehmen. Sie ist Orthoptistin und behandelt Menschen aller Altersstufen mit Störungen des Sehens. Im Team der Schwarzwald-Augenklinik Schramberg praktiziert sie gelegentlich auch am Standort Donaueschingen. Die Münster-Studie könne sie bestätigen. „Aus dem Bauchgefühl heraus, denn wissenschaftliche Studien, die einen Zusammenhang zum Homeschooling herstellen, gibt es ja noch nicht“, sagt die 28-Jährige. Gewiss sei aber, dass die Kurzsichtigkeit bei Kindern und Jugendlichen über Jahrzehnte zugenommen habe.

„Fernsicht statt Fernsehen“ empfiehlt die Orthoptistin Isabell Hennig zur Schonung der Augen.
„Fernsicht statt Fernsehen“ empfiehlt die Orthoptistin Isabell Hennig zur Schonung der Augen. | Bild: Isabell Hennig

Gängiges Mittel diese Fehlsichtigkeit zu korrigieren, ist eine Brille. Doch Kurzsichtigkeit kann im Alter noch weiter zunehmen und bei stark Kurzsichtigen schwere organische Veränderungen verursachen. Netzhautablösung, Grüner Star und oder Makuladegeneration treten als Gesundheitsrisiken neben die generell schlechtere Sehschärfe. Weil sich Fehler, die in jungen Jahren gemacht werden, über die Jahre der Kurzsichtigkeit summiert, liegt dem 52-jährigen Facharzt die Vorbeugung bei Kindern am Herzen.

Tageslicht hat enorme Bedeutung

Laut Wissenschaft werde die Entwicklung der Kurzsichtigkeit weniger durch die Erbanlagen als vielmehr durch Umweltfaktoren, Sehgewohnheiten und Lebensstil beeinflusst. „Zu nennen sind hier der Lichteinfall ins Auge sowie das Lesen mit kurzem Abstand“. Je weniger Tageslicht, desto eher tritt Kurzsichtigkeit ein, so die Faustregel.

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Beim Lockdown verstärkenden sich die negativen Effekte durch den fehlenden Schulweg, den Unterricht zuhause und fehlende Pausen auf dem Schulhof. Dabei habe Tageslicht – auch bei bedecktem Himmel oder Regen – eine enorme vorbeugende Funktion: „Zwei Stunden Tageslicht jeden Tag halbieren das Risiko, eine Kurzsichtigkeit zu entwickeln“, sagt Freytag.

Sie unterstützen in der Augenpraxis an der Karlstraße die Ärzte Tilman Freytag und Johannes Kohler (von links): Sarah Schulz, Uta Mayer, ...
Sie unterstützen in der Augenpraxis an der Karlstraße die Ärzte Tilman Freytag und Johannes Kohler (von links): Sarah Schulz, Uta Mayer, Angelika Kraus (hinten) und Evelyn Auer. | Bild: Wursthorn, Jens

Dazu kommen falsche Verhaltensweisen beim Lesen. Abstand und Dauer seien die Stellschräubchen, an denen Eltern zum Schutz ihrer Kinder drehen sollten. Bei Kindern sollte der Leseabstand zu einem Buch mindestens 30, bessser noch 40 Zentimeter betragen. Oftmals aber nehmen gerade Leseanfänger, für die das Entziffern der Buchstaben noch schwierig ist, ihr Buch näher vor die Augen. Zudem sollten nach einer halben Stunde Naharbeit – zu der auch die Beschäftigung mit sehr kleinen Dingen gehört – zehn Minuten Erholungspause für die Augen folgen. Prophylaktisch wirkend hier der Wechsel zwischen Nähe und Ferne.

Die Sehprobentafel in der Augenarztpraxis wird heutzutage digtal gesteuert.
Die Sehprobentafel in der Augenarztpraxis wird heutzutage digtal gesteuert. | Bild: Wursthorn, Jens

Smartphones dagegen trügen laut Freytag nach aktuellem Wissensstand nicht zur Kurzsichtigkeit bei. Belegbar ist das statistisch: Seit Einführung der kleinen Alleskönner wurden nicht mehr Minusbrillen an Kinder verschrieben. Der Grund liegt in den Sehgewohnheiten. Anders als bei der Arbeit vor dem Monitor wechseln Nah- und Fernblick. Meistens schaue man nur wenige Augenblicke auf das Smartphone und oft genug an dessen Display vorbei.

Zu wenig „Blinzler„ bei Bildschirmarbeit

Kurzsichtigkeit entsteht durch übermäßiges Längenwachstum des Augapfels. Dieses Wachstum verlangsamt sich zwar mit zunehmendem Lebensalter. Hier treten andere Merkmale des Augenstresses hinzu. Bildschirmarbeit sorgt für Augenstress; müde, brennende Augen. „Bildschirmarbeit sorgt für einen deutlich selteneren Lidschlag“ sagt Freytag. Seien es beim konzentrierten Blick auf den Monitor acht „Blinzler“ pro Minute, seien es bei einer einer Unterhaltung im Durchschnitt 21. Wie bei einem aussetzenden Scheibenwischer werde der Tränenfluss auf der Hornhaut unterbrochen und die Oberfläche für Beschädigungen anfällig.

So wird Fehlsichtigkeit gemessen

Einen Ansturm von Patienten mit lockdownbedingten Augenleiden stellt der Mediziner im Praxisalltag nicht fest. „Die Hemmschwelle zum Arzt zu gehen ist gegenwärtig einfach höher“. Befragt er aber betroffene Erwachsene oder Kinder, die seit einem Jahr vermehrt Zeit am Bildschirm verbringen, dann berichten sie häufig von ihren gestressten Augen. Sollte es – wie zu vermuten – zu einer Zunahme der Kurzsichtigkeit bei Kindern durch den Lockdown kommen, werde dies bald in den Statistiken sichtbar werden. Eine auf Tausenden Kindern basierende Studie aus China gebe es bereits. Demnach habe die Kurzsichtigkeit seit März zugenommen.