Samstagnachmittag, noch 15 Minuten bis 16 Uhr: Unter den Zuschauern auf dem Donaueschinger Rathausplatz fallen englische und deutsche Gesprächsfetzen. Überall stehen Musiker bereit: vor dem Rathaus, am Musikantenbrunnen, hinter den Fenstern im obersten Stock des gelben Rathauses. Eine Saxophonistin wird immer wieder von Gästen angesprochen: „Ich bin gerade im Tunnel“, erklärt sie entschuldigend. Kurz vor 16 Uhr füllt sich der Platz zunehmend. Besucher stehen in kleinen Grüppchen zusammen, kaum jemand trägt einen Mund-Nasen-Schutz – trotz angeordneter Maskenpflicht. Das Gemurmel der Wartenden wird immer lauter.
Dann schlagen die Glocken zur vollen Stunde. Wasserrauschen setzt ein, es strömt aus den Lautsprechern, die überall um den Rathausplatz und die Karlstraße hinunter bis zur Donauquelle verteilt sind. Zunächst kaum wahrnehmbar, wird das Geräusch immer lauter und reißender, die wartenden Gäste verstummen allmählich. Sie schauen gespannt zu den Musikern, manch einer wirkt etwas orientierungslos. 16.04 Uhr: Klarinetten und Saxophone setzen zu einer ersten Klangwolke an, die sich unter das Rauschen des Wassers aus den Lautsprechern mischt.

Zwei Minuten später verstummen die Instrumente wieder und einige Schritte weiter, auf dem Balkon oberhalb des Juweliers Kanstinger, ertönen leise Klänge aus Posaunen und Trompeten. Ohne dazu angewiesen zu sein, setzt sich die Zuschauermenge in Bewegung. Langsam geht es auf der Karlstraße in Richtung Donauquelle. An jeder Ecke, in jedem Fenster und auf jedem Balkon stehen vereinzelt Musikerinnen und Musiker, die immer wieder zu disharmonischen Klängen oder überraschenden Trommelwirbeln ansetzen – alles im Einklang mit der Geräuschkulisse aus den Lautsprechern. Das Stück „Donaurauschen – Transit und Echo“ auf den Donaueschinger Musiktagen ist in vollem Gange.
Zwei Jahre lang haben Komponist Daniel Ott und Regisseur Enrico Stolzenburg das Open-Air-Projekt unter Beteiligung zahlreicher Musikerinnen und Musiker aus Donaueschingen geplant. „Daniel und ich arbeiten so, dass wir die Landschaft untersuchen und gucken: Wie klingt dieser Ort ohne uns und wie klingt die Musik hier. Und so sind wir auf die Kapellen gestoßen“, sagt Stolzenburg. Der Dialog mit den lokalen Musikvereinen habe sie interessiert, denn „der Klang sollte ja mit der Karlstraße zusammenpassen“. Deshalb hätten sie in der Straße ganz viele Klangtests gemacht. „Man muss diese Klänge wirklich genau dort testen, wo sie auch stattfinden sollen.“

Doch nicht nur mit den Orten und Menschen an der Donau haben sich die beiden Künstler beschäftigt, auch die Geschichte des Flusses wollten sie in ihrem Werk verarbeiten. So tönen um 16:36 Uhr die Stimmen von Papst Franziskus, UN-Generalsekretär António Guterres und einer geflüchteten Frau aus Syrien aus Lautsprechern auf Höhe der City-Pizzeria. „I want to live a normal life“, sagt die Syrerin.
Trotz all der Dinge und Ereignisse, die die Länder entlang der Donau über die Jahre getrennt haben, „wollten wir das Verbindende des Flusses in den Vordergrund stellen“, so Stolzenburg. Die Donau sei mehr als dieser Ort, mehr als diese Zeit: „Und vielleicht bringen wir die Leute auch zum Nachdenken, an welchem Fluss man hier lebt. Wie leben die Leute woanders, wie lebten die Leute früher?“

Kurz nach halb fünf packen die Musiker entlang der Karlstraße zusammen und machen sich auf den Weg in Richtung Rathausplatz. Sie haben es eilig, schließlich ist das Werk zeitlich straff durchgeplant. Auf dem Musikantenbrunnen haben Studierende ihre Schlagwerke in einem Kreis aufgebaut, am Ende jeder Zufahrtstraße zum Rathausplatz formieren sich die verschiedenen Donaueschinger Musikvereine und -kapellen.

Um 16:47 Uhr hört das laute Wasserrauschen aus den Lautsprechern plötzlich auf, kurz darauf setzen alle Musikerinnen und Musiker auf dem Platz zum gemeinsamen Höhepunkt des „Donaurauschens“ ein. Die letzte Viertelstunde des Werkes ist geprägt von Gitarrenriffs und Schlagwerkern, die mit Herbstlaub rascheln, von Crescendi und Decrescendi, einem Zusammenspiel der verschiedenen Musikerinnen und Musiker in einer teils alles durchdringenden Intensität. Diese Lautstärke, „der man sich nicht richtig entziehen kann“, sei genauso beabsichtigt gewesen, erklärt Stolzenburg.

Der Regisseur gibt sich sehr zufrieden mit dem Ergebnis: „Ich hatte mir fest vorgenommen, dass ich das heute genießen möchte, weil wir zwei Jahre daraufhin gearbeitet haben. Und ich konnte mich tatsächlich entspannen, weil ich wusste, dass alles geregelt ist und alle wissen, was sie tun müssen.“ Die Stimmung unter den Ausführenden sei außerdem toll gewesen, sie hätten hochmotiviert, aber nicht gestresst gewirkt. Auch die Reaktion der Zuschauerinnen und Zuschauer stimmt ihn positiv: „Ich habe ganz viele Menschen gesehen, die gelächelt haben, die fast ein bisschen verträumt durch die Straße gelaufen sind.“ Bei einer Probe am Tag zuvor habe ihm eine Zuhörerin bereits gesagt, dass sich das Stück anfühle, „als ob sie mit einem Boot die Donau entlangfährt“.

Jeder und jede Einzelne habe während der Aufführung wahrscheinlich etwas anderes gehört und doch habe niemand etwas verpasst. „Wir wollten, dass die Leute nichts falsch machen können und hatten auch keine heimliche Agenda. Es sollte ein selbsterklärendes Prinzip sein.“ Dieses Konzept zu entwickeln, sei gar nicht so einfach gewesen, so Stolzenburg. „Das ist viel Arbeit, die – wenn sie erfolgreich ist – verschwindet.“ Ohne Einweisung und Erklärung sollten sich die Leute selbstständig durch das Werk entlang der Karlstraße bewegen – und der Plan ging auf.