Herr Holzapfel, wer ist eigentlich besonders anfällig für seelische Beeinträchtigungen in Corona-Zeiten?

Vor allem Menschen, die auch ohne Corona Schwierigkeiten mit ihrer Psyche haben. Wenn schon vorher Land unter war, dann wird das natürlich durch Corona in aller Regel nicht besser, bis auf ganz wenige Ausnahmen. Aber der viel häufigere Befund ist der, dass berufliche, private oder gesundheitliche Schwierigkeiten verstärkt werden, da wirkt Corona wie ein Brennglas. Die Menschen haben dadurch viel mehr Zeit, sich über ihre Probleme Gedanken zu machen, man sitzt viel zuhause rum, hat viel weniger Ablenkung. Und das ist einer der größten Risikofaktoren, um dann womöglich schwerere psychische Probleme zu entwickeln, sodass aus einem Grübeln auch tatsächlich eine Depression werden kann, weil ich aus dem Grübeln gar nicht mehr herauskomme: Wochenends findet nichts mehr statt, kein Kino, kein Geburtstag, keine Konzerte, keine Freunde zum Einladen, und dann sitze ich da allein.

Sie sprechen einzelne Ausnahmen an. Was meinen Sie damit konkret?

Das gibt es tatsächlich auch. Bei einigen hat Corona eher psychische Entlastung gebracht, aus verschiedenen Gründen. Einige Patienten haben davon berichtet, dass sie es eher genossen haben, nicht mehr so viel Trubel haben. Es ist ein bisschen ruhiger, man hat mehr Zeit mit der Familie. Wobei das durchaus etwas war, was im ersten Lockdown häufiger genannt wurde. Im zweiten Lockdown war das jetzt immer weniger. Damals wusste man noch nicht, wie lange das geht. Und man dachte sich, ein paar Wochen Ruhe ist doch auch mal nett. Aber jetzt sind die Ermüdungserscheinungen deutlich im Vordergrund. Die große Mehrheit geht jetzt wirklich auf dem Zahnfleisch.

Jeder Mensch tickt anders. Doch klar ist: Corona wirkt sich auf jeden in bestimmter Weise aus.
Jeder Mensch tickt anders. Doch klar ist: Corona wirkt sich auf jeden in bestimmter Weise aus. | Bild: Oberberg Kliniken/obs

Wie wichtig ist es in diesem Zusammenhang für Kinder, dass sie wieder zur Schule oder in den Kindergarten gehen können?

Sehr wichtig. Es ist einfach eine hohe Belastung, wenn die Kinder zuhause sind, und die Eltern im Homeoffice müssen gleichzeitig die Kinder beschulen. Die Eltern werden dadurch zu Lehrern, aber Lehrer sind in bestimmten Altersgruppen immer doof für Kinder, da besteht ein gewisses Konfliktpotenzial. Viele Kinder sind auch motorisch nicht mehr ausgelastet, weil kein Vereinssport mehr stattfindet. Für die Kinder ist es bestimmt ein Segen, wenn es gelingen sollte, die Schulen wieder halbwegs sicher zu öffnen. Ein Jahr im Leben eines Neun-, Zehn- oder Elfjährigen ist richtig viel in der Entwicklung. Wenn da Sozialkontakte so lange fehlen, muss man das erst mal wieder richtig kompensieren.

Wir leben mittlerweile ein Jahr mit Corona. Welche Ableitungen und Schlüsse lassen sich dazu treffen, wie sich die menschliche Psyche verändert hat?

Man kann es seriös nicht ganz genau sagen. Was ich mir schon vorstellen kann, ist dass der Stellenwert von gemeinschaftlichen Aktivitäten bewusster im Fokus ist bei vielen Menschen. Also dass man sich – wenn es wieder möglich ist – darüber freut, in größerer Runde Freunde zu treffen, Veranstaltungen wie Konzerte zu besuchen. Der Wert dieser nicht bezahlbaren Dinge wie soziale Kontakte steigt dadurch bestimmt, zumindest für eine gewisse Zeit. Ich denke, es wird nicht ewig anhalten, weil die menschliche Natur dafür auch ein bisschen zu träge ist. Aber den Effekt wird man schon eine ganze Weile merken, dass da ein großer Nachholbedarf ist, der die Leute auch wieder zusammenführt.

Ist schon abzusehen, welche Veränderungen von nachhaltiger Dauer sein werden?

Veränderungen gibt es in ganz verschiedenen Lebensbereichen. Die Welt als Ganzes wird sich sicherlich ein Stück weit verändern, dass man nicht mehr komplett zum alten Status zurückgeht. Was die Psyche anbelangt, da ist es schwierig, weil die Menschen zu unterschiedlich sind. Manche werden versuchen, sich so gut wie möglich an das Alte anzunähern. Andere werden sagen, jetzt haben wir so viel gelernt in der Zeit, über uns und was wirklich wichtig ist, und den Effekt wollen wir uns erhalten. Was am Ende als überdauernde, vielleicht sogar gesellschaftliche Veränderung spürbar sein wird, da traue ich mir im Moment noch keine Prognose zu.

Wann brauche ich Hilfe? Tipps vom Experten

Viele sind schon lange im Homeoffice. Gibt es Erkenntnisse, ob sich diese Arbeitsweise eher positiv oder negativ auf unsere Gefühlswelt auswirkt?

Das variiert individuell sehr stark, vor allem in Abhängigkeit, wie es zuhause aussieht: Handelt es sich um eine alleinstehende Person? Oder eine alleinerziehende Person? Oder um eine Familie, in der der eine bequem im Homeoffice arbeitet, während sich der Partner um die Kinder kümmert? Das alles, und auch die wohnliche Situation, sind zentrale Faktoren. Wer den Luxus hat, ein Arbeitszimmer zu haben und einen Partner, der sich um die Kinder kümmert, für den kann Homeoffice ein richtiger Vorteil sein: Der Fahrtweg fällt weg, man kann sich in einer Pause mal kurz um die Kinder kümmern. Aber das andere Bild ist, wenn alles zusammen stattfindet: Man versucht ein Geschäftstelefonat zu führen, während die Kinder durch das Wohnzimmer toben. Und da ist wohl ein Aufatmen, sobald man wieder raus kann.

Gibt es weitere Aspekte zu berücksichtigen?

Mit der Arbeit in einem Büro sind außerdem zumeist soziale Kontakte verknüpft: Man trifft Kollegen an der Kaffeemaschine oder in der Mittagspause. Mit der Länge der Zeit fällt dieser Effekt immer mehr ins Gewicht. Am Anfang fanden das viele eher mal gut, zuhause zu sein und mehr Zeit zu haben. Inzwischen sind die Leute so ein bisschen resigniert und sagen, der Tageshöhepunkt ist, wenn ich zum Einkaufen kann und irgendjemanden an der Kasse sehe. Das sind schon bedrückende Beschreibungen, die ich manchmal höre, aber ich kann es verstehen. Das sind Menschen, die haben teilweise seit fast einem Jahr kaum jemanden regelmäßig gesehen, das kann nicht gut sein auf Dauer.

Homeoffice: Diese Arbeitsweise ist bei manchen beliebt, bei manchen nicht.
Homeoffice: Diese Arbeitsweise ist bei manchen beliebt, bei manchen nicht. | Bild: dpa

Wie kann Homeoffice gut funktionieren?

Wenn es möglich ist, sollte man ein eigenes Zimmer dafür nutzen, in dem man ungestört arbeiten kann. Und was auch nicht zu unterschätzen ist, dass man nicht seine private Wohnatmosphäre zur Büroatmosphäre verkommen lässt. Eine Trennung von geschäftlichem Raum und privaten Raum ist zu empfehlen. Das Ganze würde ich auch versuchen, zeitlich zu strukturieren. Je strukturierter das abläuft, desto eher kann sich die Psyche damit arrangieren. Den Feierabend sollte man dann auch wirklich machen. Und nicht so lange weiterarbeiten, weil es ja eh egal ist, weil sowieso nichts stattfindet. Das ist dünnes Eis, weil der Weg in eine Überarbeitung sehr rasch gegeben ist. Für viele Menschen wartet momentan nichts mehr nach Feierabend, also denken manche, es ist egal, ich kann auch länger machen, aber das ist kritisch zu sehen.

Wie gelingt es, dass wir trotz erhöhter Belastung weiterhin unseren Kindern ein Gefühl der Sicherheit geben? Und ihnen gleichzeitig Vorsicht vermitteln in Bezug auf das Virus?

Sicherheit kommt auch durch eine regelmäßige Tagesstruktur, damit trotz Corona ein Stück weit Alltagsroutine stattfindet. Und dass man mit den Kindern auch immer mal wieder rausgeht, sodass sie Bewegung an der frischen Luft haben. Wir sollten an unserem Alltag auch in der Corona-Zeit so gut es geht festhalten.