Es herrscht schon Abschiedsstimmung in der Praxis von Kinderarzt Selahattin Yavrucuk in der Donaueschinger Straße in Hüfingen. Noch sind die Wände dekoriert mit von Kindern gemalten Bildern, eine Uhr mit Tiersymbolen kräht zur vollen Stunde wie ein Gockel. Gegen Ende des Jahres allerdings nicht mehr. Dann will Yavrucuk die Türen schließen. Nicht zum ersten Mal.

Abschiedsgrüße

Es klopft an die Tür. „Wir wollten noch ‚Auf Wiedersehen‘ sagen. Und uns bedanken.“ Patienten, die vor rund 20 Jahren bei Yavrucuk waren, wollen sich verabschieden. Damals hatte er seine Praxis noch in Donaueschingen im AOK-Haus. Florian Mahler, Almuth Cano Rua und die kleine Emely haben Geschenke für den beliebten Kinderarzt mitgebracht. „Als wir gehört haben, dass sie aufhören, mussten wir einfach noch mal vorbeikommen“, sagt Mahler. „Es ist sehr lange her, aber wir haben sie nie vergessen.“ Yavrucuk ist sichtlich gerührt.

Kinderarzt Selahattin Yavrucuk (links) bekommt von Almuth Cano Rua, Emely und Florian Mahler ein Abschiedsgeschenk vorbeigebracht.
Kinderarzt Selahattin Yavrucuk (links) bekommt von Almuth Cano Rua, Emely und Florian Mahler ein Abschiedsgeschenk vorbeigebracht. | Bild: Simon, Guy

Schon lange im Ruhestand

Eigentlich ist der Pädiatrist schon lange im Ruhestand. Etwa elf Jahre, um genau zu sein. Die Praxis in Hüfingen ist eine private. Gegen eine kleine Gebühr untersucht der Mediziner hier seine Patienten. „Ich bin nicht krank, aber wenn sie jahrelang der Frau erzählen, dass sie bald aufhören, dann müssen sie das auch irgendwann“, erklärt Yavrucuk. Als er das erste Mal in den Ruhestand ging, habe seine Frau jedoch schnell gemerkt, dass etwas nicht stimmt. „Ich ging kaputt“, so der Arzt. Er hatte kein anderes Hobby gepflegt, „ich fiel in ein Loch.“

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Urenkel in der Praxis

Also hängt er sich abermals das Stethoskop um. Die Arbeit ist für ihn nicht nur Berufung, sondern auch Hobby und Beschäftigung im Alter: „Ärztliche Versorgung ist Vertrauenssache. Und ich kann sagen, dass meine Patienten mittlerweile meine Freunde sind.“ Auch die Patienten sehen das so: „Andere gehen eben zum Skat spielen, ich komme hierher. Es hält mich putzmunter. Und wenn Impulse kommen, dann muss ich helfen.“ Mittlerweile untersucht er schon die Urenkelkinder seiner ersten Patienten. Eigentlich sollten es drei Jahre in der Praxis sein, sagt er seiner Frau. Jetzt sind daraus elf geworden. Yavrucuk ist 85 Jahre alt. „Mental fühle ich mich nicht alt“, sagt er.

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Kein Nachfolger

Einen Nachfolger wird es entsprechend nicht geben. „Da die Praxis privat ist, würde sich das nicht rentieren. Davon kann man nicht leben“, sagt der Kinderarzt. Die Räume werden also vorerst leer bleiben, später zu einer Wohnung umgebaut werden.

Eine Beschäftigung

Selahattin Yavrucuk ging es ja auch nicht um das Geld, sondern um Beschäftigung und seine Patienten. „Jetzt macht aber meine Frau nicht mehr mit“, erklärt er mit einem Lächeln. Schon früher sei er immer in der Praxis gewesen, und machte auch Hausbesuche. Das konnte dann schon mal nachts um 23 Uhr sein.

Im Ruhestand dann weiterzumachen, das empfindet Yavrucuk auch als indirekte Unterstützung für die Kollegen, die „chronisch überlastet“ seien. Seine Patienten kommen dabei aus der ganzen Region: Villingen-Schwenningen, Löffingen, Geisingen, Ippingen, Furtwangen, Urach – um nur einige Orte zu nennen.

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Ein Grund für das jetzige Ende sei auch das Coronavirus: „Meine Frau hat Angst, dass ich da etwas mit nach Hause bringe.“ Allerdings mache er in der Praxis keine Abstriche, Tests oder Impfungen. Zudem werden Termine immer telefonisch vereinbart. Bei Infekten müssen die Patienten vorher einen Test machen gehen.

Ein anderes Verhältnis

Wer zu ihm kam zahlte eine Gebühr und wurde untersucht: „Hauptsache, jemand schaut sich an, was los ist“, sagt der Arzt, der alle siezt. Auch seine Arzthelferinnen, die für ihn wie eine Familie sind: „Moni, wie lange sind sie jetzt schon dabei?“ Sicher an die 30 Arzthelferinnen habe man gemeinsam ausgebildet. Darauf sei man stolz: „Es ist auch kein Verhältnis wie Arbeitgeber und Arbeitnehmer.“

Ganz aufhören?

Seine Mitarbeiter haben auch schon Wetten abgeschlossen, ob er wirklich aufhört. Und so ganz wird es das wohl trotzdem nicht: „Solange ich kann, will ich ein bisschen was machen.“ Seine private Nummer wolle er eventuell einigen bekannt geben. Wer dann einen Rat braucht, kann sich an ihn wenden. „Meine Frau hat schon Angst, dass die Praxis dann in unser Wohnhaus wandert.“ Aber durch das Vertrauen der Patienten „da werden Kräfte aktiviert.“ Und schließlich sei es auch eine Freude zu erfahren: „Es geht dem Kind wieder gut.“

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Viele Erinnerungen

Von ehemaligen Patienten werde er oft angesprochen. Meist erinnere er sich nicht sofort: „Mir wird dann erzählt, ‚sie haben damals das und das gesagt‘. Manchmal kommt die Erinnerung dann wieder.“ Drei Generationen an Patienten, das bedeutet auch Tausende an Menschen, die der Kinderarzt untersucht hat. „Das nehmen sie noch mit. Ist vom Nikolaus“, drückt Selahattin Yavrucuk beim Verabschieden einer Mutter mit ihrem Sohn eine kleine gefüllte Papiertüte in die Hand. Vermisst – das wird der beliebte Kinderarzt sicher jetzt schon.