Ein Angeklagter ist so lange unschuldig, bis seine Schuld bewiesen ist. Die Bedeutung der Unschuldsvermutung als ein Kernprinzip des Rechtsstaates wird durch den Verlauf des Hess-Prozesses jedem Beobachter vor Augen geführt. Jahrelang lastete auf den Angeklagten Hess und Ziegler der Verdacht, in großem Stile betrogen und manipuliert zu haben, um ihr Unternehmen erfolgreich an die Börse bringen zu können. Doch der gerichtlichen Überprüfung hielten diese Anschuldigungen offenbar nicht stand. Wer hätte das bei Prozessbeginn für möglich gehalten? Für wohl die meisten, die sich dafür interessierten, stand die persönliche Schuldvermutung schon fest.

Das könnte Sie auch interessieren

Vor Gericht aber haben die Angeklagten und ihre Strafverteidiger diese Vorwürfe systematisch zerpflückt und legale Zusammenhänge aufgezeigt, die seitens der Ermittlern von Polizei und Staatsanwaltschaft überhaupt nicht überprüft wurden. Diese Einlassungen haben offenbar schweren Eindruck bei den fünf Richtern hinterlassen. Sie halten das Szenario der Anklage von einer großangelegten Manipulationsstrategie nicht mehr für glaubhaft. Der Plausibilität der Erklärungen hatte bisher auch die Staatsanwaltschaft nichts entgegenzusetzen. Sie hat sich bisher so gut wie nicht zu Wort gemeldet. Bei der Anklagevertretung liegt nun der Ball, wie es weitergeht. Stimmt sie einer gerichtlichen Verständigung mit den Angeklagten zu, kann das weitere Verfahren ziemlich schnell erledigt sein.

Die Entwicklung, die sich jetzt abzeichnet, wirft viele Fragen auf. War der Absturz der Hess AG nur ein kapitaler „Betriebsunfall“, hervorgerufen durch falsche Anschuldigungen eines „Whistleblowers“ und falsche Entscheidungen des damaligen Aufsichtsratsvorsitzenden Tim van Delden? Die großflächige Vernichtung von Kapital und Arbeitsplätzen allein durch Geltungssucht und Dummheit verursacht? Oder steckte mehr dahinter? Und warum konnten die tatsächlichen Sachverhalte nicht schon viel früher aufgedeckt werden? Für die Verteidiger der Angeklagten ist klar: Diese Verantwortung liege bei den Ermittlern. Sie hätten schlampig ermittelt und sich blind auf einen Sonderuntersuchungsbericht der Hess AG verlassen, ohne die darin erhobenen Vorwürfe zu überprüfen. Kann die Wahrheit so banal sein?