Er war 37 Jahre alt und plötzlich Bundestagsabgeordneter für die FDP. Vier Jahre später musste er sein Büro im Bundestag wieder räumen. Der Villinger Marcel Klinge – einmal nach ganz oben und dann ist es plötzlich aus und vorbei mit der Bundestagskarriere. Und nun?
Der angestrebte Aufstieg und das Ausscheiden
Der Aufstieg in den Bundestag und das Ausscheiden nach nur einer Wahlperiode – beides war fast schon programmiert. Landeslistenplatz sechs war ihm 2016 zuteilgeworden, als er sich aufmachte, den Wahlkreis um Villingen-Schwenningen im Bundesparlament zu repräsentieren.

Klinge hatte sich zielstrebig über Jahre vorbereitet. Er kann nicht nur reden, sondern auch von Angriff auf Schmeichel-Modus schalten. Er moduliert seine Stimme und seine Auftritte geraten schneidig oder schwungvoll sein, je nach Lage.
Sein heimliches Markenzeichen – bis heute
Sein Markenzeichen ist der geföhnte Seitenscheitel und es war deshalb auch immer ein wenig haarig gemeint, wenn jemand aus der Zuhörerschaft sagte, der Herr von der FDP mache am Rednerpult mal wieder die Welle.

Klinge war aufgebrochen, um etwas zu bewegen. Die Gunst der Landespartei ging ihm dabei offenbar verloren. Klinge hätte sich per Kampfkandidatur um einen vorderen Listenplatz bewerben sollen, dem stellte er sich nicht und verzichtete. Damit war sein Ausscheiden aus dem Bundestag eigentlich so gut wie klar.
Zum Schluss das Signal der Wähler
Die Wähler jedoch ließen den Kandidaten noch einmal glänzen. Er punktete bei der Bundestagswahl im September 2021 für sich bei den Erststimmen mit einem Zuwachs von 5,7 Prozent im Oberzentrum. Er kam auf 13 Prozent an Erststimmen. Für die Wiederwahl reichte das bei weitem nicht.

War es das mit der Politik, nachdem er zwanzig Jahre lang in der Partei, im Gemeinderat und im Kreistag gewirkt hat? Klinge lässt sich alles offen. Er sagt im Frühjahr 2022, er müsse mal sehen, ob er in zwei Jahren noch einmal kandidiere.
Keine Gratis-Flüge mehr kraft Amtes
Marcel Klinge lebt jetzt von seinem eigenen Geld. Die opulente Ausstattung des Abgeordneten mit Büroleiter, Fahrdienst und kostenlosen Bahnfahrten und Lufthansa-Flügen ist für ihn vorbei. Viele würden jetzt kämpfen, um nicht in ein mentales Loch zu fallen. Klinge scheint einen Schritt weiter.

Als Abgeordneter bearbeitete er den Bereich Tourismus und Gastronomie. Genau darauf setzt nun seine Gegenwarts- und Zukunftsplanung. Klinge ist Unternehmer. Er führt als Vorstandsvorsitzender eine Denkfabrik in Berlin. Union der Wirtschaft heißt der Verband. Ein Verein trägt das Konstrukt und bündelt die Interessen der Auftraggeber.
Das Start-up muss jetzt wachsen
Zum Jahresende will Klinge fünf Festangestellte beschäftigt haben. Sein Sekretariat? Wer Klinge sprechen möchte, muss sich über eine App (Calendly) ein Zeitfenster bei ihm buchen. Wochenlang ist er allerdings zugeplant. Sein Business ist bei ihm total auf Priorität geschaltet.

Was Klinge eine Denkfabrik nennt, wird wohl schlussendlich ein Lobby-Büro. Das hat Gründe: Klinge war mittendrin in der Politik, als Corona ausbrach und die Branche der Hotellerie und Gastronomie unterzugehen drohte. Es ist kein Zufall, dass hinter Klinge ein Verein steht, der vor allem aus diesem Bereich Branchenbekannte vereint.
Auch der größte Donaueschinger Hotelier ist an seiner Seite
Wie zum Beispiel Alexander Aisenbrey. Der Wahl-Villinger, der die Geschäfte des Donaueschinger Öschberghofs führt, ist einer davon. Klinges Mission ist es, Konzepte zu erarbeiten und in politischen Entscheiderkreisen zu platzieren, wenn wieder eine Katastrophe wie Corona ausbricht.

Die dazu erforderliche Basisarbeit ist weit gefächert, wie Klinge erklärt. „Da ist zum Beispiel das Thema Resilienz“, sagt er wie immer komplett geschliffen. Gemeint ist damit aus seiner Sicht die Krisen-Widerstandsfähigkeit der Betriebe mit Tresen und vermieteten Zimmern. Es könne „ja schließlich nicht sein, dass nach zwei Monaten finanziell die Luft knapp wird“, erklärt er eine seiner Stoßrichtungen.
Er spürt den großen Trends unserer Zeit nach
Mit dem Erkennen von Megatrends und dem Definieren von Branchenstandards sollen die Arbeitsergebnisse weit über das Zeitfenster eines Jahres hinausleiten. „Tagesgeschäft interessiert uns nicht“, macht Klinge mit einem saloppen Spruch weiter das strukturelle Vorgehen klar.
Der heute 41-Jährige fährt mit seinem Fahrrad durch Berlin. Und er ist frohen Mutes. 100 Mitglieder stark ist seine Organisation heute. Der Umstand, dass auch Bereiche wie Lebensmittelverarbeiter sich eingeklinkt haben, entspricht seinen Vorstellungen von vernetztem Planen und Agieren. „Es sind auch ganz Große dabei“, sagt er stolz und verweist auf Anbieter, die Pflegeheime und Universitäten in ganzen Bundesländern als mobile Wirte mit ihrem Angebot versorgen.
Auf diese Frage reagiert er zunächst unwirsch
Und wie ist Marcel Klinge selbst versorgt? Er umkurvt das Thema zunächst und faucht aus heiterem Himmel: „Wollen Sie jetzt wissen, wie viel ich verdiene?“ Er lässt sich dann aber auf das Thema ein und schildert die Umstände so: „Wie jeder andere muss ich jetzt als Neugründer auch einmal Abstriche machen“, sagt er. Und fügt hinzu „Ich habe aber für mich in den vergangenen Jahren gut gewirtschaftet und komme so erst einmal problemlos klar.“
Klinge kommt am Prenzlauer Berg in der Zionskirchstraße an. Hier ist die offizielle Büroadresse bei einem Anbieter, der flexibel Büro-Räume und Service anbieten kann.
Seine Kontakte sind jetzt Gold wert
Klinge muss jetzt auch einen Balanceakt schaffen. Mit der Politik brechen darf er nicht. Im Gegenteil: Seine bisherigen Bundestagskollegen sind für ihn bedeutsame Zielpersonen. Es gehe darum, Verständnis für Entwicklungen und Bedürfnisse der Branche zu entwickeln, erklärt der Villinger. Seine Aufgabe sind Mit-Entwicklung und Kommunikation dieser Vorhaben.
Das erste Ziel der Denkfabrik steht
Nachdem er für seinen Wahlkreis Hunderttausende von Menschen zu vertreten versuchte, muss er nach Zahlen mit seinem neuen Wirken keine Verluste verbuchen. Vom Zimmerservice bis zum Hoteldirektor und zum internationalen Food-Manager vertritt er nun ein klar definiertes Klientel.
Klinge muss aber auch punkten. Erste große Mission: Es darf in Deutschland zu keinem weiteren Lockdown mehr kommen. Da müssen nur noch die Corona-Zahlen in seiner Heimatregion mitspielen. Mitte März 2022 ist Schwarzwald-Baar bundesweit am stärksten mit Neuinfektionen belastet, die Sieben-Tage-Inzidenz schnellte auf bis zu 3300 hoch.