Das kleine Gesichtchen zieht im Schlaf eine Grimasse. Ein tiefer Seufzer. Vorsichtig deckt Kinder-Intensivkrankenpflegerin Sandra Rathgeber das Baby wieder zu, schließt die kleine Tür des Inkubators.
Gerade hat Luisa über die Magensonde Muttermilch bekommen. Eigentlich sollte das kleine Mädchen noch elf Wochen im Bauch ihrer Mutter Katharina wachsen. Luisa Mia Jachmann ist jedoch schon seit einer Woche auf der Welt.
Fast 13 Wochen zu früh
Mit 1190 Gramm ist Luisa in der 28. Schwangerschaftswoche per Kaiserschnitt zur Welt gekommen.

Katharina Jachmann sitzt an diesem Morgen an einem Tisch im Elternzimmer der Kinderintensivstation des Schwarzwald-Baar-Klinikums in Villingen-Schwenningen. Lange Haare, Brille, grauer Cardigan. Sie wirkt entspannt und strahlt, wenn sie über ihre Tochter spricht: Mit Luisas Geburt sind die Angst und Anspannung der vergangenen Wochen von ihr abgefallen.
Eine Patientin, so leicht wie eine Packung Milch
Selbst wenn die Kleine die nächsten Wochen noch auf der Station 11 verbringen wird: Sie atmet selbstständig und wird rund um die Uhr überwacht. Das Team ist mit der nur wenig mehr als 1000 Gramm leichten Patientin sehr zufrieden. Für ihre Mutter ein überwältigendes Gefühl. „Wir hatten riesige Angst, sie zu verlieren“, sagt Katharina Jachmann.
„Die Kinder lehren einen Demut.“Christian Bender, Oberarzt
Christian Bender ist Oberarzt auf Station 11. Ein Kinderarzt mit mehr als 30 Jahren Berufserfahrung. Er hat unter anderem an den Universitätskliniken in Freiburg, Karlsruhe und Heidelberg gearbeitet, große und kleine Kinder behandelt. Für die Allerkleinsten – manche hier liegen mit nur 600, 700 Gramm in den Inkubatoren – schlägt sein Medizinerherz aber auch nach all den Jahren noch ein bisschen schneller.

Sie lehren einen Demut, sagt Christian Bender.
- Das Kind, das erduldet, wie ihm zum x-ten Mal eine Magensonde gelegt wird.
- Das Kind, das wieder einmal eine unangenehme Untersuchung über sich ergehen lassen muss.
- Das Kind, das an der Grenze zur Lebensfähigkeit zur Welt kam und sich
entgegen aller Prognosen Tag für Tag weiter gut entwickelt. - Aber auch das Kind, das den Weg ins Leben nicht schafft, obwohl es zunächst so aussah, als würde alles passen.
Wenn weniger mehr ist
Früher galt derjenige als der beste Intensivmediziner, der am meisten machte, der am schnellsten einen Zugang legen konnte und den Beatmungsschlauch am routiniertesten in den Rachen schob, sagt Matthias Henschen, Ärztlicher Leiter des Klinikums und Leiter der Kinderklinik. Heute weiß man: Die Kinder dürfen erst einmal ankommen.

„Die Arbeit ist über die Jahre immer faszinierender geworden“, sagt Heidrun Schumpp, Teamleitung auf der Station 11. Sie hat 32 Jahre Erfahrung in der Kinder-Intensivkrankenpflege. Die Ruhe bei der Erstversorgung heutzutage sei nicht zu vergleichen mit der Hektik, die in früheren Jahren herrschte, wenn ein Kind zu früh zur Welt kam.
Oft reiche zur Unterstützung der Atmung eine CPAP-Atemhilfe (Continuous Positive Airway Pressure). Sie unterstützt die Spontanatmung durch Überdruck. „Nach zehn Minuten sind neun von zehn Kindern so stabil wie ein Reifgeborenes“, sagt Christian Bender.
Welt-Frühgeborenentag und Frühchen-Verein
Frühchen-Puppe nimmt Berührungsängste
Dass die Angst der Eltern bei einer drohenden Frühgeburt groß ist, wissen hier alle. Deshalb werden die Familien – wenn es die Zeit vor der Geburt zulässt – behutsam auf das vorbereitet, was sie nach dem zu frühen Start erwartet.
Sie dürfen die Station besichtigen, notfalls auch im Krankenbett liegend, wenn die Mutter, so wie Katharina Jachmann, nicht aufstehen darf. Mit Hilfe einer Frühchen-Puppe, die von Größe und Gewicht her einem Baby aus der 30. Schwangerschaftswoche entspricht, können sie ein erstes Gefühl dafür entwickeln, wie ihr Baby aussehen wird.
Auch die Jachmanns haben die Station vorher besichtigt und die Frühchen-Puppe in den Händen gehalten. „Das war einfach mega-gut“, sagt Katharina Jachmann. Aus der anfänglichen Überforderung sei schnell ein gutes Gefühl geworden. „Mir hat das viel Angst genommen.“
Die Brüder sind termingerecht geboren
Dass ihr drittes Kind ein Frühchen werden könnte, das hatten Katharina und Ralf Jachmann „gar nicht auf dem Schirm“. Luisas Brüder Maximilian (8) und Valentin (3) kamen unkompliziert und termingerecht zur Welt. Beide wogen bei der Geburt mehr als vier Kilo. Nicht so das Nesthäkchen.

Platsch – und alles voller Blut
„Bis zur 22. Woche war alles in Ordnung“, sagt Jachmann. Dann begannen die Blutungen. Die 39-Jährige hatte eine Plazenta praevia: Dabei sitzt die Plazenta weit unten in der Gebärmutter, was verschiedene – auch schwerste – Komplikationen verursachen kann.
„Plötzlich machte es platsch und alles war voller Blut“, erinnert sie sich an jenen Sommertag, als die Unbeschwertheit am ersten Tag der 22. Schwangerschaftswoche ein jähes Ende nahm. Zu diesem Zeitpunkt der Schwangerschaft geht die Überlebenswahrscheinlichkeit für ein Kind außerhalb der Gebärmutter gegen Null.
Höchste Versorgungsstufe für die Kleinsten
Der Rettungsdienst bringt die 39-Jährige aus Locherhof zunächst in die Rottweiler Helios-Klinik, drei Wochen später ins Schwarzwald-Baar-Klinikum, das als Perinatalzentrum der Stufe eins auch kleinste Frühgeborene unter 1250 Gramm versorgen kann.
„Eine psychisch sehr anstrengende Zeit.“Katharina Jachmann über die wochenlange Angst um ihre Tochter
Insgesamt sieben Wochen lang ist Katharina Jachmann in stationärer Behandlung. „Ganze sieben Wochen voller Angst“, blickt sie zurück. Immer wieder hat sie starke Blutungen.
Zum Schlafen in den Kreißsaal
Sie hangelt sich von Tag zu Tag, vermisst das normale Familienleben, langweilt sich und weiß zugleich, dass Bettruhe das wichtigste ist, um Luisas Geburt so lange wie möglich hinauszuzögern. Manche Nächte muss sie sicherheitshalber im Kreißsaal verbringen, darf nur aufstehen, um zur Toilette zu gehen. „Eine psychisch sehr anstrengende Zeit.“
„Als man mir sagte, dass sie jetzt geholt wird, habe ich erst einmal geweint.“Katharina Jachmann
Luisas Geburtstag beginnt erneut mit starken Blutungen, so dass letztlich die Entscheidung für einen Kaiserschnitt fällt. Für Katharina Jachmann rückblickend eine Erleichterung. „Aber als man mir sagte, dass sie jetzt geholt wird, habe ich erst einmal geweint.“
So schnell wie möglich zur Mutter
Doch der Zeitpunkt sei der richtige gewesen: „Im OP durfte ich nicht mal selbst vom Bett auf den OP-Tisch wechseln. Alles war voller Blut.“ Um 20.12 Uhr kommt Luisa Mia auf die Welt. Schon wenig später wird sie ihrer Mutter zum ersten Mal auf die nackte Brust gelegt, hört den vertrauten Herzschlag.

„Idealerweise geschieht das in den ersten ein bis zwei Stunden nach der Geburt“, sagt Sandra Rathgeber. „Es ist so wichtig für Mama und Kind.“ Beide seien herausgerissen worden: Das Kind aus der schützenden Umgebung der Gebärmutter, die Mutter aus einer Schwangerschaft, die eigentlich noch Wochen bis Monate hätte dauern sollen.
„Damals hat man aus zu früh geborenen Kindern kranke Menschen gemacht.“Matthias Henschen, Ärztlicher Direktor des Schwarzwald-Baar-Klinikums
Anders als in früheren Jahren, als man Frühgeborene erst einmal „in Ruhe ließ“, die Eltern die Kinder nicht anfassen oder gar aus dem Brutkasten nehmen durften. „Damals hat man aus den zu früh geborenen Kindern kranke Menschen gemacht“, sagt Matthias Henschen. Heute setze man dort an, wo die Kinder Unterstützung brauchen.
So viel Normalität wie möglich
Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Deshalb darf Luisa auch so oft wie möglich auf der Brust von Mama oder Papa liegen. Und deshalb haben die Pflegekräfte von Station 11 auch schon kurz nach der Geburt Abdrücke von ihren Füßchen genommen. „Das fand ich total schön“, sagt Katharina Jachmann. Wie bei einem reif geborenen Baby. Nur eben viel, viel kleiner.