Es gibt Bücher, die ziehen Hass auf sich. Das mussten die Mitarbeiter der Stadtbibliothek in Schwenningen im Herbst 2024 schockiert feststellen. Unbekannte hatten mehrere Bücher zerrissen, in denen es um Formen von Sexualität und Geschlechteridentitäten geht.
„Es war das erste Mal in meiner beruflichen Laufbahn, dass Literatur aus ideologischen Gründen zerstört wurde“, sagt Volker Fritz. Der Leiter der Stadtbibliotheken von Villingen-Schwenningen hat die Überreste der zerfetzten Bücher auch mehr als zwei Monate später immer noch in seinem Büro liegen. „Ich habe Hemmungen, sie zu entsorgen.“

Beschädigungen gebe es immer wieder. Normalerweise jedoch aus Unachtsamkeit. „Hier war jedoch klar, mit den Büchern sollten auch die Inhalte radikal zerstört werden“, so die Einschätzung von Fritz. Die zerfledderten Bücher seien teilweise unter Regalen versteckt gefunden worden.
Die menschenfeindliche Vorgehensweise widerspreche allem, wofür die Stadtbibliothek stehe. „Wir sind ein offenes Haus für alle, bei uns spielen Geschlechteridentitäten keine Rolle“, bekräftigt der Bibliotheksleiter.
So reagiert das Bibliotheks-Team
Für das Team sei sofort klar gewesen, dass es über die Tat nicht so einfach hinweggehen kann. Die Bücher sollten so schnell wie möglich ersetzt werden. „Das hätten wir auch nicht bei anderen Bezügen wie Handicaps oder Migration getan“, sagt Volker Fritz. Obwohl klar war, dass die Täter nicht zu ermitteln sein werden, wurde Strafanzeige gestellt.
Und die Mitarbeiter gehen an die Öffentlichkeit. In einem Instagram-Post dokumentierte das Social-Media-Team das Zerstörungswerk. Der SÜDKURIER berichtet damals von dem deutlichen Statement für mehr Toleranz. Laut Fritz gab es darauf bundesweite Resonanz – ausschließlich Zuspruch. „Das fand ich schön und ermutigend.“
Die zerfetzten Buchseiten werden in den Räumen der Bibliothek ausgestellt.
Warum die Täter gescheitert sind
Die Bibliothek habe in der Folge zahlreiche Angebote für Bücherspenden bekommen. „Die Person, die die Bücher zerstört hat, wollte unseren Bestand zu diesem Thema reduzieren“, sagt Volker Fritz. „Aber sie hat genau das Gegenteil erreicht.“ Stand Februar 2025 gibt es in beiden Häusern in Villingen und Schwenningen mehr Ausleihmedien zu LGBTQ+-Themen als zuvor.
„Zwei Autorinnen haben uns Ersatz für ihre Bücher geschickt und sogar eine Widmung reingeschrieben“, erzählt der Chef der Bücherei. Zudem habe die Versicherung die beschädigten Medien ersetzt.
Das Thema wird aufgewertet
Die Neuzugänge wandern aber nicht einfach wieder an irgendwelche Stellen in den vielen Regalen zurück. Bislang wurden entsprechende Bücher unter „Sonstige“ geführt. Das Team habe sich damit nicht wohlgefühlt und entschieden, dass der Themenbereich zukünftig seine eigene Kategorie bekommen soll. Und damit auch seinen eigenen Regalabschnitt.

Der ist zugegebenermaßen klein. In beiden Häusern der städtischen Einrichtung sind es zusammen gerade mal 24 Bücher. Eine Nische? Beim Gespräch mit Volker Fritz in Schwenningen am 10. Februar zeigt sich, dass das Thema bei den Nutzern gefragt ist. Bis auf vier Bücher sind zu Beginn der Woche alle ausgeliehen.
Warum es dennoch Bedenken gibt
Die neue Kategorisierung LGBTQ+ sorgt aber auch für Bedenken. Einer möglichen Stigmatisierung steht die Aufwertung des gesellschaftlich bedeutsamen Themas durch einen eigenen Regalabschnitt gegenüber. Outet sich jeder als queer, der vor dem Bücherregal steht? Ein sensibler Bereich: „Gerade für Jugendliche oder Kinder ist es schwierig, wenn sie sich mit ihrer Identität noch unsicher sind“, sagt der Leiter der Bibliothek.
So handhaben andere Bibliotheken das Thema


Kategorie, aber nicht kategorisch
„Deshalb haben wir entsprechende Jugendbücher über Gefühle und Liebe nicht dort einsortiert“, sagt er. Überhaupt landen nur Werke in der neuen Kategorie, die sich explizit mit der Thematik beschäftigen sowie Coming-Out-Ratgeber. Ansonsten geht es nach dem vorherrschenden Thema. Manche Bücher richten sich beispielsweise an Eltern oder beziehen sich auf das Berufsleben. Auch Bilderbücher bleiben in ihrer eigenen Kategorie.
Einige Titel gibt es gar nicht physisch, sie sind über die Onleihe erhältlich. „Wir überlegen, ob wir dafür die Sichtbarkeit im Katalog erhöhen“, sagt Fritz. Diesen Weg sei die Bibliothek bereits beim queeren Cinema gegangen. Entsprechende Filme seien auf einen Klick zu finden. „Das ist niederschwelliger“, findet der Bibliotheksleiter.
Neue Anfeindungen über Social Media
Am 5. Februar kündigt die Stadtbibliothek bei Instagram an, dass LGBTQ+-Bücher jetzt eine eigene Kategorie haben. Ein Nutzer kommentiert – reich an Rechtschreibfehlern -, dass er in die Bücher hineinspucken werde. „Eine junge Kollegin war geschockt“, sagt Volker Fritz. Er selbst sei relativ gelassen geblieben. „Traurig, dass ich so was sage, aber ich habe mit radikalerem und menschenverachtenderem gerechnet.“

Wie werden die Bücher ausgewählt?
Volker Fritz ist selbst mit einem Mann verheiratet, für die Beschaffung von Büchern zum Thema LGBTQ+ ist er aber nicht zuständig. Das übernehmen andere Mitarbeiter.
Die Suche nach neuen Medien läuft übrigens genauso wie bei allen anderen Büchern, Filmen oder Spielen. Das Team nutzt einen Besprechungsdienst, wälzt Verlagsprospekte und reagiert auf die Wünsche der Nutzer.

Vorrangig ist dabei immer die Frage, was aus den Neuigkeiten heraussticht und was sich bereits im Fundus befindet. „Ein fünftes Buch zum gleichen Thema brauchen wir nicht. Und ein veraltetes auch nicht“, sagt Fritz.
„Das Thema muss gut behandelt und das Cover ansprechend sein.“ Denn auch bei Büchern sind Äußerlichkeiten der Mode unterworfen. Ein Blick in den Regalabschnitt zeigt: Die einschlägige Literatur zeigt sich meist so bunt wie das Geschlechterspektrum.
Während der Arbeit an diesem Artikel kommt es zu einem erneuten Vorfall. Lesen Sie dazu: Unbekannte zerstören Jugendbücher komplett