Was befürchtet wurde, tritt ein. Der Einzelhandel muss nach knapp zehn Tagen schon wieder schließen. Grund: Wenn die Inzidenz an drei aufeinanderfolgenden Tagen über 50 liegt, sieht die Corona-Verordnung eine erste Notbremse vor. Der Inzidenzwert schraubte sich laut Landratsamt auch am Dienstag auf 53,6. Die Geschäfte müssen ab Donnerstag erneut zumachen, ein Einkauf ist nur nach Voranmeldung möglich (Click & Meet). Zuvor hatte der Handelsvorstand des Gewerbeverbands Oberzentrum (GVO) in einem offenen Brief an Landrat Sven Hinterseh und Villingen-Schwenningens Oberbürgermeister Jürgen Roth appelliert und vor einer erneuten Schließung des Einzelhandels gewarnt. Das „wäre dramatisch, denn wir alle kämpfen nach so vielen Wochen ohne Umsätze ums Überleben“, heißt es in dem Schreiben, das auch der Presse zuging, wörtlich.
Worum geht es?
Etwas mehr als eine Woche konnten die Läden nun öffnen, weil die Zahl der Corona-Fälle unter dem magischen Inzidenzwert 50 lagen. Doch nun steigt sie, die Zahl liegt nun am dritten Tag in Folge darüber. Das war es dann mit einem Stück Normalität, die in den vergangenen Tagen in Villingen-Schwenningen Einzug hielt. Tanja Broghammer ist stellvertretende Vorsitzende in der GVO-Sparte Handel. Daher unterschrieb sie den Aufruf mit. Sie macht aber auch als Einzelhändlerin auf Anfrage deutlich, wie elementar die vergangenen Tage für ihre Existenz waren. „Wir haben einen ganz wichtigen Umsatz gemacht“, berichtet sie. Dabei seien die Kunden vorsichtig gewesen, alle hätten Masken getragen, kein einziger hätte zum Aufsetzen des Schutzes aufgefordert werden müssen. Auch zu dem befürchteten Einkaufstourismus sei es nicht gekommen, in den allermeisten Fällen hätten Stammkunden die Chance ergriffen, wieder einkaufen zu gehen. Aus ihrer Sicht habe die Öffnung funktioniert, „mit Augenmaß können wir so weitermachen“. Selbst das Robert-Koch-Institut stufe die Ansteckungsgefahr im Einzelhandel als niedrig ein.

Warum soll für Städte wie Villingen-Schwenningen eine Ausnahme gemacht werden?
Es gebe keinen überfüllten Nahverkehr, Abstände in den Geschäften könnten leicht eingehalten werden, selbst bei der Öffnung seien die Läden nicht überrannt worden, die Maskenpflicht genieße hohe Akzeptanz, die Hygieneregeln würden in den Geschäften eingehalten und es gebe nur wenige große Betriebsformen, die die Kunden magnetisch anziehen. Daher mache es keinen Sinn, in den kleinteiligeren regionalen und städtischen Strukturen den Einzelhandel zu Zwecken der Pandemie-Eindämmungen wieder einzuschränken, schreiben neben Broghammer, Rainer Böck und Markus Blust als Handelsvorstände sowie Gunter Welzer als weiterer Stellvertreter.
Ist „Click & Meet„ eine Alternative?
Nein, betont die Interessensvertretung der Einzelhändler. Die daraus entstehenden Umsätze seien zu gering, um damit wirklich über die Runden zu kommen. „Wir brauchen die Flexibilität der Kunden, denn kaum einer möchte einen Termin ausmachen, einkaufen geschieht meist spontan“, heißt es in dem GVO-Schreiben. Für viele Einzelhändler ist der Aufwand zu hoch, Mitarbeiter müssten in den Geschäften die Stellung halten und dann sagt der Kunde doch ab oder komme gar nicht erst.
Gibt es einen Ausweg?
Die GVO-Vertreter meinen: Ja. So sollten die Inzidenzzahlen bereinigt betrachtet werden. Das heißt, Hotspots, wie Corona-Ausbrüche in Kindergärten und Altersheimen, werden aus der offiziellen Zahl herausgerechnet, weil die Infektionsketten ja bekannt und nachvollziehbar sind. Das hat der Calwer Landrat vorgemacht und damit die Inzidenz unter den wichtigen Wert von 50 gedrückt: Die Geschäfte konnten öffnen. Doch der Sonderweg hielt nicht lange. Am Samstag erging aus dem Sozialministerium eine Anweisung, die pünktlich nach der Wahl umgesetzt werden muss: Eine bereinigte Inzidenz dürfe für die Berechnung der Zahl nicht herangezogen werden.
Was empört die Einzelhändler darüber hinaus?
Sollten Geschäfte geschlossen werden müssen, so müsste das Landratsamt den Supermärkten der Umgebung untersagen, Waren abseits der Nahrungsmittel- und Hygienesortimente zu verkaufen: Es sei nicht nachvollziehbar, dass Supermärkte Bekleidung, Küchenutensilien, Gartenartikel, Spielzeug, Handwerksartikel, Schreibbedarf, Dekorationen und Accessoires, Heimtextilien und vieles mehr anbieten und verkaufen dürfen, „wir aber nicht“, kritisieren die GVO-Vertreter. Im Gegenteil: Damit werde abseits des notwendigen Bedarfs nur zusätzliche Anlässe geschaffen, die Supermärkte aufzusuchen. Der Umsatz und die „Bummelkunden“ verlagern sich so in die Supermärkte und sorgen dort für ein erhöhtes Kundenaufkommen.
Wie reagieren die Angesprochenen?
Landrat Sven Hinterseh kann die Situation des Einzelhandels und die Sorgen, die in dem offenen Brief geäußert wurden, sehr gut nachvollziehen, heißt es in einer Stellungnahme. „Dennoch müssen wir um Verständnis bitten, dass wir als untere staatliche Verwaltungsbehörde (Gesundheitsamt) lediglich das umsetzen, was in Berlin und Stuttgart ganz aktuell in den vergangenen Wochen beschlossen wurde. Der Beschluss der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder habe die Leitplanken klar formuliert. Nur in atypisch gelagerten Sonderfällen kann vom Inzidenzwert, der durch das Landesgesundheitsamt täglich landkreisscharf festgestellt wird, abgewichen werden. Ein solcher atypischer Sonderfall liegt im Schwarzwald-Baar-Kreis nicht vor, da „wir aktuell leider ein diffuses Infektionsgeschehen zu verzeichnen haben“.