Schlaflose Nächte. Das sind Adalbert Gillmanns klarste Erinnerungen an die frühen 2000er Jahre. „Am Ende wollte ich gar nicht mehr leben“, sagt er. Und dass, weil seine Kinder abrutschten.

Weil er sich schuldig fühlte und nicht die Kraft fand, sie von den gefährlichen Drogen fernzuhalten. Geholfen hat Gillmann eine Selbsthilfegruppe für Angehörige suchterkrankter Kinder in Schwenningen.

Selbsthilfegruppe wiederbelebt

Die Selbsthilfegruppe gibt es seit 2015 nicht mehr. Weil Gillmann weiß, wie wichtig sie ist, hat er sie mit einer betroffenen Mutter jetzt einfach neu gegründet.

Schicksalhafte Nacht

Anzeichen, dass ein Kind süchtig sei, gebe es oft früh, sagt er. „Aber als Eltern will man das oft nicht wahrhaben. Und schiebt Konflikte auf die Pubertät.“ Bei Gillmann sei es genauso gewesen. „So richtig bewusst geworden ist mir das erst in einer Nacht.“

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Eine Nacht im Jahr 2004. Als ein Anruf aus dem Krankenhaus seine Welt zusammenbrechen ließ. „Ich habe nur noch gehört, dass man meiner Tochter helfen könnte. Wenn sie nur sagen würde, welche Drogen sie genommen hat.“ Dass seine damals 17-jährige Tochter im Krankenhaus war, dass es ihr schlecht ging, dass allein sei schon viel zu verkraften gewesen.

Aber Drogen? Seine Tochter?

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Und: Als Gillmann dann zwei Jahre später entdeckte, dass auch sein Sohn Cannabis und härtere Drogen nahm. Dass seine Kinder vielleicht sogar zusammen angefangen hatten, zu kiffen. Und er all die Jahre nichts mitbekommen hatte.

Ein Mann zündet sich einen Joint an (Symbolbild)
Ein Mann zündet sich einen Joint an (Symbolbild) | Bild: Christoph Soeder/dpa

Als er all das merkte, da stürzte er selbst mit ab, sagt er. Ängste und Schuldgefühle quälten Gillmann. Er verlor seinen Job, den Boden unter seinen Füßen. Die Diagnose: Depressionen. Und trotzdem änderte sich erst mal nichts. Bis Gillmann die Selbsthilfegruppe in Schwenningen fand.

Man versucht alles, um die Sucht zu vertuschen

Bis er merkte: Dass es anderen genauso ging. „Wir reagieren alle gleich. Und oft ganz ambivalent“, sagt er. „Wir sind überfordert. Fragen uns, was wir falsch gemacht haben. Wir wollen unseren Kindern helfen. Und tun gleichzeitig alles, um ihre Sucht zu vertuschen.“ Das Bild, der heilen Familie aufrechtzuerhalten – was die Sucht begünstige.

Und die Eltern in die Co-Abhängigkeit treibe.

Eigene Bedürfnisse wiederentdecken

„Es ist fast so, als erwarten wir von uns, der Fels in der Brandung zu sein“, sagt er. Dabei bräuchten viele co-abhängige Eltern selbst dringend Hilfe.

Als Gillmann das erste Mal in die Selbsthilfegruppe ging, seien ihm die Tränen gekommen. „Es tat unheimlich gut, alles loszuwerden.“ Hier im Elternkreis hatten er Verbündete gefunden. Menschen, die ihm Mut machten. Seine eigenen Bedürfnisse wiederzuentdecken.

Sieben Jahr lang fuhr er deshalb von Balingen, wo er wohnt, nach Schwenningen. „Bei uns gab es solche Elternkreise ja überhaupt nicht.“ Was er lernte?

„Konsequenzen auch durchzuziehen!“ Denn: Allzu oft hatte Gillmann sich um die Post seiner drogenabhängigen Kinder gekümmert, offene Rechnungen beglichen. Sie immer mal wieder bei sich aufgenommen.

Adalbert Gillmann hat die Selbsthilfegruppe, die ihm einst half, mit einer betroffenen Mutter in Schwenningen jetzt wiederbelebt.
Adalbert Gillmann hat die Selbsthilfegruppe, die ihm einst half, mit einer betroffenen Mutter in Schwenningen jetzt wiederbelebt. | Bild: Daniela Biehl

Heute weiß er: „So nehmen sie ihr Leben nie selbst in die Hand.“ Nach dem Motto: Die Familie kümmert sich schon, griffen sie nur wieder zu Drogen.

„Konsequenzen auch durchzuziehen“, wiederholt Gillmann. Wie ein Mantra. Im Elternkreis habe erlebt, wie sich bei anderen Familien ganz langsam etwas verändere.

Was Gillmann tat

Also setzte er seine Tochter einen Tag vor Weihnachten auf die Straße, als sie sich weigerte, mit den Drogen aufzuhören. Ja, sogar ihren Freund bei Gillmann zu Hause einquartieren wollte. Ein Freund, der ebenfalls kiffte.

Und so blieb er hart, als sein Sohn unter Cannabis-Einfluss zu schnell gefahren war. Und seine Strafe nicht bezahlen konnte. „Das Geld habe ich ihm nicht mehr gegeben.“ Die Folge: Der Sohn landete im Knast.

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Heute weiß Gillmann: Seine Tochter übernachte damals im kalten Winter Nacht für Nacht im Auto. „Das tut weh.“ Und sein Sohn: War im Gefängnis „quasi auf Entzug“. Er weiß aber auch: Beide suchten sich danach tatsächlich Hilfe. Wurden clean.

Ein Märchen ist seine Geschichte aber nicht, denn Gillmann weiß: „Die Sucht kommt wieder.“ Nach neun Jahren ohne Drogen sei seine Tochter, nach zwölf Jahren ohne Drogen sei sein Sohn wieder rückfällig geworden. Inzwischen sind beide erneut clean. Beiden wüssten, was zu tun ist, wenn der Suchtdruck kommt, sagt der Vater.

Was die Pandemie mit den Süchtigen macht

Doch eins ist ihm klar: Die Pandemie hat viel verändert. „In meiner Selbsthilfegruppe“ – Gillmann leitet mittlerweile eine in Balingen – „höre ich seit Corona, wie viel aggressiver die Kinder geworden sind“. Seine Vermutung: Der anhaltende Lockdown hat bei den Jugendlichen eine Menge Gefühle ausgelöst.

Allen voran: Angst und Wut, die Sucht nicht mehr befriedigen zu können. Eingesperrt zu bleiben. Angst und Wut – die in starke Aggressionen umschlägt. Und denen sich die Eltern ausgeliefert fühlen. Deshalb hat Gillmann mit einer betroffenen Mutter die Selbsthilfegruppe in Schwenningen wiederbelebt.

„Damit die Eltern auch hier eine Anlaufstelle haben.“ Gerade hier, wo man ihm einst selbst geholfen hat.