Was geschah wirklich am 19. Oktober in Villingen-Schwenningen?

Es ist eine wilde, widersprüchliche Geschichte, die die vier Angeklagten über Stunden hinweg am Konstanzer Landgericht erzählen. Drogen kommen darin vor. Eine ausufernde Party. Schlägereien. Äußerste Brutalität. Vandalismus und Diebstähle.

Anklagt sind vier Männer im Alter von 19 bis 29 Jahren. Wegen einer gefährlichen Körperverletzung, Sachbeschädigung und besonders schwerem Raub in Tateinheit mit Bedrohung.

Einer der vier Angeklagten betritt den Saal im Landgericht Konstanz.
Einer der vier Angeklagten betritt den Saal im Landgericht Konstanz. | Bild: Hanser, Oliver

Zumindest eins wird schnell klar: Die Männer sind geständig. Nur eben nicht so, wie sich das Gericht das wünscht. Wo sie bewusst lügen, um ihren Kumpels den schwarzen Peter in die Schuhe schieben, das bleibt offen.

Eine wilde Party

Doch von vorn: Ihren Schilderungen nach beginnt der 19. Oktober 2021, ein Dienstagabend, mit einer wilden Party in der Wohnung eines Bekannten des 25-jährigen Angeklagten.

Es sei getrunken worden. Sehr viel sogar. Der 19-jährige Angeklagte lässt über seinen Anwalt verlauten, er habe fünf Flaschen Wodka getrunken. Zehn Gramm Cannabis und zwei Gramm Koks konsumiert.

Auch die anderen sprechen von Koks, Alkohol, aufgedrehter, lauter Musik – und von einer Stimmung, die plötzlich umgeschlagen sei.

Fußfesseln sollen Fluchtversuche verhindern.
Fußfesseln sollen Fluchtversuche verhindern. | Bild: Hanser, Oliver

„Da wurde rumgeschrien“, sagt der Bekannte des 25-Jährigen, der als Zeuge aussagt. Da wurde ein Messer gezückt, sagt fast jeder vor Gericht. Die vier Angeklagten. Der Bekannte. Andere Betroffene, in deren Wohnungen die vier – im Laufe des Abends noch – eingedrungen seien.

„Ich war das nicht“

Wem das Messer gehörte? Wer es zückte? Darüber gibt es vor Gericht so viele Versionen wie Aussagende. Mal sei es der 19-jährige, mal 21-jährige, mal 25-jährige und mal der 29-jährige Angeklagte gewesen, der damit andere Menschen bedroht habe.

Nur die jeweils Aussagenden wollen mit dem Messer – wie auch den Körperverletzungen – nichts zu tun gehabt haben.

„Das war mein Kumpel“, „Ich war das nicht“ oder „Ich weiß nicht mehr“ sind Sätze, die Richter Joachim Dospil an diesem Tag allzu oft hört.

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Feststeht: Irgendwann beschließen die vier, die Wohnung des Bekannten zu verlassen. Um erst in die Wohnung einer 20-Jährigen zu marschieren – und dann in eine dritte.

Eingetretene Balkontür, Prügelattacken

Unterwegs hätten sie Mülltonnen umgeschmissen, gegrölt, dann die Balkontür der 20-Jährigen eingetreten – und den Partner der Frau verprügelt. Ohne Grund, so scheint es.

Und natürlich will es keiner selbst gewesen sein. „Ich habe nur gesehen, was die anderen gemacht haben“, sagt etwa der 25-jährige Angeklagte.

Betroffene berichten von Angstzuständen

Er will die anderen noch davon abgehalten haben, auf seinen Bekannten einzuschlagen. Doch der Bekannte kann sich daran partout nicht erinnern. Auch er sei an diesem Abend von den Angeklagten verprügelt worden, sagt er.

Und er leide noch heute unter Angstzuständen.

„Immer, wenn es abends spät wird und jemand vor meiner Wohnung ist, denke ich, die kommen jetzt wieder“, sagt der Bekannte. „Obwohl sie in Untersuchungshaft saßen. Aber das Gefühl bleibt.“

Justizmitarbeiter bringen einen weiteren Angeklagten in die Verhandlung.
Justizmitarbeiter bringen einen weiteren Angeklagten in die Verhandlung. | Bild: Hanser, Oliver

So ähnlich schildert es auch ein 22-Jähriger in dessen Wohnung in der Färberstrasse die vier an 19. Oktober zuletzt eindrangen. „Wir hatten Angst. Meine Freundin hat geweint“, sagt er.

„Und einer – einer der vier – hat ein Messer gezückt und auf einen Eiweiß-Becher eingestochen.“ Eine Drohung sollte das sein: Verhaltet euch ruhig, dann passiert euch nichts.

Diebstähle im Wert von 800 Euro

Dabei wollten die vier, sagen sie, gar nichts vom 22-Jährigen sondern von seinem Mitbewohner, der gar nicht da war. Egal in dieser Nacht.

„Wir haben die Wohnung durchsucht, randaliert, Sachen mitgenommen, Klamotten, eine Sporttasche, etwas Geld“, gesteht der 29-jährige Angeklagte. Er schaut zu Boden. Schämt sich.

Verschweigt aber, dass der Wert der Sachen durchaus hoch war. Von 800 Euro erbeutetem Diebesgut spricht die Staatsanwaltschaft.

Was ist wirklich passiert?

Warum sie überhaupt da waren? In dieser dritten, letzten Wohnung? Auch hier unterscheiden sich die Geschichten der Angeklagten.

Einer kann sich nicht mehr erinnern. Einer will gar nicht mehr dabei gewesen sein. Einer meint, der Jüngste von ihnen, der 19-Jährige, hätte noch eine Rechnung offen gehabt – mit dem Mitbewohner, der nicht da war. Und der 19-Jährige schweigt.

Viel sagt er nicht: der 19-jährige Angeklagte.
Viel sagt er nicht: der 19-jährige Angeklagte. | Bild: Hanser, Oliver

Wegen des Mitbewohners habe er wohl eine Strafe aufgebrummt bekommen. Weil er gegen die Corona-Quarantäne Verordnung verstoßen hatte.

Die Sache mit der Angst und den Lügen

Wie schwierig die Wahrheitsfindung in einem solchen Fall ist, wird dann auch deutlich als eine Polizistin von ihrer Ermittlungsarbeit berichtet. Und davon, dass die eigentlichen Opfer, die Betroffenen, bei der Vernehmung sich nichts zu sagen trauten, Ja, sogar widersprüchliche Aussagen machten.

„Ich hatte den Eindruck, die wollten in den Fall gar nicht verwickelt werden“, sagt sie. „Aus Angst.“

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Angst, die mit Lügen einhergeht.

„Waren Sie jetzt dabei oder nicht“, fragt Richter Dospil den 25-jährigen Angeklagten und nimmt Bezug auf jenen Moment des Abends, als irgendwer die Balkontür der 20-Jährigen eintrat.

Der 25-Jährige hatte bei der Polizei angegeben, das nicht miterlebt zu haben. Er habe da gerade Drogen gekauft. Vor Gericht sagt er dann: „Ich war da. Ich habe es gesehen.“

„Und warum haben Sie das nicht sofort der Polizei gesagt?“, fragt Dospil.

Unterschwellige Drohungen

„Weil ich weiß, wie er drauf ist“ – er meint den 19-jährigen Angeklagten – „dass er andere bedroht. Und: Er weiß, wo meine Familie lebt“. Das hätte ihm Angst gemacht.

Unterschwellige Drohungen und eine aggressive Ich-Stech-Dich-ab-Mentalität hätten in der Luft gelegen, sagt der 25-Jährige.

Schulden, kein Job und Drogen

Doch: Wie konnte es so weit kommen? Wieso wissen vier junge Männer an einem Dienstagabend nichts anderes mit sich anzufangen, als in fremde Wohnungen einzudringen, die Bewohner zu verprügeln und zu stehlen?

Nach den Strafgesetzen müssen Richter und Schöffen zu einem Urteil kommen (Archivbild von Mai 2021).
Nach den Strafgesetzen müssen Richter und Schöffen zu einem Urteil kommen (Archivbild von Mai 2021). | Bild: Göbel, Nathalie

Klar wird vor Gericht: Alle vier sind arbeitslos. Zwei haben nicht mehr als einen Schulabschluss, nie eine Ausbildung gemacht, nichts studiert, sich von Praktikum zu Praktikum gehangelt. Alle vier stecken tief in der Drogenszene, nur einer ist inzwischen clean. Und einer hat Schulden in Höhe von 15.000 Euro.

„Das zieht einen runter“, „da feiern wir lieber“, „man will von den Drogen weg und schafft es nicht. Und wenn man drauf ist, schlägt man über die Stränge“, sagen die Angeklagten.

Das Urteil

Für den 19-jährigen und den 29-jährigen Angeklagten hat das Gericht unter den vieren das höchste Strafmaß gefunden. Sie wurden mit einer Einheitsjugendstrafe beziehungsweise einer Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt. Beide sollen zudem in einer Entziehungsanstalt untergebracht werden.

Das Landgericht Konstanz (Archivbild von Februar 2022).
Das Landgericht Konstanz (Archivbild von Februar 2022). | Bild: Arndt, Isabelle

Der 25-Jährige wurde zu einer Freiheitsstrafe von eineinhalb Jahren verurteilt . Aber nur wegen gefährlicher Körperverletzung. In den anderen Punkten ist er freigesprochen worden. Der 21-Jährige muss drei Jahre und drei Monaten in Haft.